Unconditional Teaching oder wie Lehrende zu Verbündeten der Studierenden werden – ein Kommentar

Unconditional Teaching oder wie Lehrende zu Verbündeten der Studierenden werden – ein Kommentar

19.09.22

Grafische Darstellung über Partizipation: Unterteilung in zwei große Prozesse: 1. pre-stages of participation: Inform, Request opinion, Gather lived experience  und 2. participation: Allow co-determination, Partial delegation of decision-making power, Transfer decision-making power.

Das HFD-Diskussionspapier „Ressource anstatt Hürde sein: Wie Lehrende soziale Barrieren abbauen und Teilhabe fördern durch Unconditional Teaching“ benennt die negativen Auswirkungen von Hierarchien auf das Lernen und bietet Ansatzpunkte, das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden neu zu gestalten. DigitalChangeMaker Leonie Ackermann diskutiert in diesem Kommentar, warum die Ergebnisse der Analyse von Zybura und Pietsch viele Studierende nicht überraschen und die Umsetzung der Empfehlungen eine große Erleichterung darstellen würde. Leonie Ackermann wird auch zu Gast beim Community-Hangout zu sozialer Barrierefreiheit am 27.09. sein.

Titelbild zum Blog: UNCONDITIONAL TEACHING ODER WIE LEHRENDE ZU VERBÜNDETEN DER STUDIERENDEN WERDEN – EIN KOMMENTAR von Leonie Ackermann. Die Autor:in nutzt die Pronomen "fey/feys" und ist DigitalChangeMaker des Jahrgangs 2019/2020. Logo unten rechts: Hochschulforum Digitalisierung.

Im April 2022 hatte ich die Gelegenheit, bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der deutsch-schottischen Konferenz „Excellence in Teaching – The Future of Digital Learning“ eine kurze Präsentation zu halten. Das Thema der Podiumsdiskussion war „Student voice in teaching and learning“ und ich sollte meine Perspektive auf digitale Lehre und damit verbundene studentische Bedürfnisse einbringen. Vielleicht etwas am Thema vorbei (aber wie alle erfahrenen Panelist*innen wissen, kann es eine gute Strategie sein, nicht die gestellte Frage zu beantworten, sondern die, die man sich wünscht, dass sie gestellt worden wäre) sprach ich über unterschiedliche Formen der Studierendenpartizipation, und welche Hürden es dafür gibt. Ich appellierte an Lehrende, zuerst das Problem zu verstehen, das sie lösen wollen, bevor sie sich für ein digitales Tool entscheiden.

Warum ich meinen Kommentar mit dieser Rückblende beginne? Weil mir das Diskussionspapier von Tyll Zybura und Katharina Pietsch aus der Seele spricht und ich viele Punkte, die die beiden anbringen, schon in meinem Input im April versucht habe, Lehrenden verständlich zu machen. Daher bin ich sehr dankbar für die Worte, die Zybura und Pietsch gefunden haben (und ein bisschen neidisch, dass ich selbst nicht auf vergleichbar eloquente Formulierungen gekommen bin).

Im Folgenden werde ich meine eigenen Beobachtungen zu Hürden für Studierende mit ausgewählten Aspekten aus dem Diskussionspapier verschränken. Denn auch wenn der Beitrag von Zybura und Pietsch für manche in seiner Analyse und seinen Empfehlungen radikal scheinen mag, wird aus studentischer Perspektive vor allem eines ausgesprochen: die Wahrheit. Und davon können wir mehr an den Hochschulen gebrauchen.

 

Hierarchien bringen Studierende zum Schweigen

In meinem Input bei „Excellence in Teaching – The Future of Digital Learning“ stellte ich eine adaptierte Form der Partizipationsleiter nach Sherry Arnstein vor, die im DigitalChangeMaker-Kontext immer gerne verwendet wird, wenn es um die gute alte Frage geht: Wie können Studierende die Digitalisierung an Hochschulen mitgestalten?

Grafische Darstellung über Partizipation: Unterteilung in zwei große Prozesse: 1. pre-stages of participation: Inform, Request opinion, Gather lived experience  und 2. participation: Allow co-determination, Partial delegation of decision-making power, Transfer decision-making power.

Um die Bedürfnisse von Studierenden an die (digitale) Lehre zu verstehen, müssen Studierende angemessen eingebunden werden. So weit, so gut. Doch wie bestimmt viele Lehrende aus der Praxis wissen, können auch gut gemeinte Partizipationsmechanismen und Unterstützungsangebote scheitern. Einer der möglichen Gründe dafür ist Misstrauen gegenüber denjenigen mit (Entscheidungs-)Macht, sowie geringe Erwartungen an tatsächliche Veränderungen durch Feedback. Dies kann aus einem allgemeinen Gefühl der Machtlosigkeit oder aus früheren Enttäuschungen resultieren. Ich habe 2020 auf Twitter versucht, einige Gedanken zum Thema studentisches Misstrauen zusammenzufassen. Für weitere Gründe, warum Studierende nicht mitmachen, ein aktuellerer Thread von mir zu dem Thema.

Machen wir uns nichts vor: Den Studierenden ist die Machtposition der Lehrenden bewusst und sie verhalten sich entsprechend. Praktisch bedeutet das, dass Studierende kein ehrliches Feedback geben oder Verbesserungsvorschläge machen, weil sie Angst haben, in Zukunft von Lehrenden benachteiligt zu werden. Oder sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihr Feedback einfach verpufft, und sparen sich deshalb die Energie. Das Resultat ist Selbstzensur und vorauseilender Gehorsam.

Oder wie Zybura und Pietsch schreiben: „Die steile hierarchische Unterscheidung zwischen der Lehrendenposition und der Studierendenposition sowie der Mangel an Privilegien, den Studierende haben, übt eine regulierende Kraft auf Studierende aus. Dies hat den systemischen Effekt, dass sie ihren hierarchisch niedrigeren Status auf eine Weise ‚performen‘, die sowohl ihren eigenen Status als auch den der Lehrenden aufrechterhält.“

 

Wer Hierarchien an Hochschulen nicht reflektiert, kann von Studierenden kein Vertrauen erwarten

Dementsprechend kann ich den Verfasser*innen nur zustimmen, wie elementar wichtig es für die Lehre ist, dass soziale Barrieren benannt und reflektiert werden. Dass ihre schädliche Wirkung auf das Lernen anerkannt wird. Wie wenig ich normalerweise erwarte, dass Lehrende diesen Schritt gehen, ist mir beim Lesen des Diskussionspapiers wie Schuppen von den Augen gefallen.

Mein regelmäßiger Vorschlag, mit Studierenden ins Gespräch zu kommen und eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, wird häufig entweder als lächerlich oder unmöglich umzusetzen kommentiert. Ich bin es deshalb gewohnt, ihn vorsichtig zu verpacken. Die Offenheit des Diskussionspapiers hat Ballast von meinen Schultern fallen lassen, der so normal für mich geworden ist, dass ich ihn kaum noch wahrgenommen habe.

Der Ballast ist, zu wissen, dass ich für die Anerkennung meiner Erfahrung und meines Wissens kämpfen muss. Dass die Realität von Studierenden an Hochschulen beständig geleugnet, relativiert und weggewischt wird. Dass wir für unsere Hilferufe und Forderungen häufig als lächerlich dargestellt werden. Vom Präsidenten, der behauptet, Studierende wüssten ja gar nicht, was eigentlich Diskriminierung sei. Vom Prof, der sich auf Twitter über Studierende echauffiert, die um eine Fristverlängerung wegen psychischer Belastung bitten.

Durch ihre machtkritische Analyse eröffnen Zybura und Pietsch einen Raum, in dem ich frei atmen kann. Studierende sind es nicht gewohnt, dass ihre Bedürfnisse gesehen und benannt werden. Nicht ständig die Anerkennung der eigenen Gleichwürdigkeit einfordern zu müssen, ist heilsam. Und die Grundlage für einen vertrauensvollen Umgang von Forschenden mit Forschenden in Ausbildung.

 

Symbolbild: Nahaufnahme einer Gruppe von sieben Menschen, die ihre Hände in die Mitte legen.

Sonderfall Deutschland: Was kann man aus dem Ausland lernen?

Dass der Diskussionsbeitrag von Zybura und Pietsch so radikal erscheint, weil die von ihnen skizzierte Vision weit weg ist von der Realität an deutschen Hochschulen, ist aus internationaler Sicht wahrscheinlich überraschend. Nach meinem Beitrag bei der Konferenz im April bedankten sich einige schottische Teilnehmer*innen bei mir für meinen Vortrag. Sie merkten allerdings an, dass sie aufgrund meiner Schilderung das Gefühl hatten, dass sich das Lehrenden-Studierenden-Verhältnis eklatant von dem in Schottland unterscheidet. Und das kann ich aus meiner früheren Arbeit in der European Students’ Union und vielen Gesprächen mit ausländischen Studierenden nur bestätigen.

Praktiken, die von Zybura und Pietsch vorgeschlagen werden, wie soziale Check-Ins, das Schaffen von sozialen Räumen, das Zulassen von Verletzlichkeit und die Normalisierung von Selbst-Fürsorge, sind beispielsweise in Irland, Schottland und Skandinavien verbreitet. Zu Beginn der COVID19-Pandemie kämpften Studierende in Deutschland um Anerkennung ihrer psychischen Ausnahmesituation durch die Lehrenden. In Irland nutzen Lehrende erstmal ihre Online-Sitzungen um mit den Studierenden darüber zu sprechen, was sie in der aktuellen Situation brauchen.

Dass in Deutschland Studierende Angst haben, Lehrenden gegenüber ehrlich zu sein und Probleme anzusprechen, ist kein Muss. Es gibt erprobte Werkzeuge, diese Situation zu verändern, sie müssen nur genutzt werden (siehe Diskussionspapier S. 7-10).

 

Und die Digitalisierung?

Abschließend möchte ich hervorheben, dass die machtkritische Analyse von Zybura und Pietsch, sowie die von ihnen vorgeschlagenen Praktiken, grundlegend dafür sind, digital gestützte Hochschullehre nachhaltig und zielgerichtet zu gestalten. In meinem anfangs erwähnten Konferenz-Input forderte ich Lehrende auf, zuerst klar Probleme und Ziele zu definieren, bevor sie sich für den Einsatz digitaler Tools entscheiden. Denn Digitalisierung auf jedes Problem anwenden zu wollen, in der Hoffnung, einfache Lösungen für die Komplexitäten und eben auch die Ungleichheit und Ungerechtigkeit des menschlichen Zusammenlebens zu finden, ist zum Scheitern verurteilt.

Die große Stärke des Diskussionspapiers ist es, die Komplexität unseres sozialen Miteinanders nicht auflösen zu wollen, sondern Lehrenden eine Wegbeschreibung an die Hand zu geben, um dieses unwegsame Terrain gemeinsam mit ihren Studierenden zu navigieren. Inwiefern digitale Werkzeuge sie dabei unterstützen können, ergibt sich daraus

 

Alle, die mitdiskutieren möchten, sind herzlich zum HFD-Hangout „Wie Lehrende soziale Barrieren in der (digitalen) Lehre abbauen & studentische Teilhabe fördern“ am 27. September eingeladen!

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