Humboldt überwinden! Warum “digitale Bildung” nicht aus der Vergangenheit gedacht werden kann

Humboldt überwinden! Warum “digitale Bildung” nicht aus der Vergangenheit gedacht werden kann

01.06.17

Humboldt Bildungsideal

Der Artikel „Eine Vision für die Zukunft digitaler Bildung“ von Christoph Meinel, den wir am 25.04.2017 bei uns im Blog veröffentlicht haben, rief auf Twitter einige Resonanz hervor. Markus Deimann geht in seiner Replik auf das Ideal der Humboldtschen Bildung ein und fragt, ob dessen Anwendung auf die digitale Bildung überhaupt sinnvoll ist. Der Text ist zuerst in der gedruckten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

In seiner „Vision für die Zukunft digitaler Bildung” sieht Christoph Meinel, Direktor des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam, eine Bildungscloud, wie sie hierzulande gegenwärtig viel diskutiert wird, als Vollendung des humboldtschen Bildungsideals. Er offenbart ein kolossales Missverständnis von Bildungsphilosophie und Bildungstechnologie und gibt Zeugnis über einen irreführenden Diskurs.

Beliebter Rückgriff auf Humboldt

Hürde überwindenWarum berufen sich Fürsprecher der Digitalisierung der Bildung wie Meinel oder Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, immer wieder auf Humboldt? Diese Frage ist nicht so trivial, wie man zunächst annehmen könnte, denn Wilhelm von Humboldt steht wie kaum ein anderer Denker für ein Bildungsideal, das einerseits sperrig und schwer verständlich wirkt und andererseits für eine Blüte deutscher Geistesgeschichte steht, auf die man nur stolz sein kann.

Entsprechend geflissentlich bemüht sich Meinel, die bildungswissenschaftlichen und -politischen Leistungen Humboldts auszubuchstabieren, um diese zu einem augenscheinlich überzeugenden Argument zusammenzuführen. Das gelingt ihm jedoch nur auf einen ersten, schnellen Blick. Bei näherer Betrachtung mangelt es seinem Rückgriff an theoretischer Fundierung. Sein historischer Exkurs in die Zeit von Humboldts Reformbemühungen kommt zunächst zum korrekten Schluss, dass dessen ambitionierte bildungspolitische Ziele nicht erreicht wurden. Warum dies so war, hatte vielschichtige kulturelle und technische Ursachen.

Im Folgenden schlicht zu konstatieren, dass sich die Zeiten seit dem frühen 19. Jahrhundert stark geändert haben, ist trivial, und es ist unzulässig zu behaupten, dass wir heute erstmals technisch in der Lage wären, das Bildungsideal Humboldts überhaupt zu realisieren. Meinel präsentiert diese Behauptung unhinterfragt als Bedingung für seine weitere Argumentation – und zeigt eine Denkart, die tief vom technologischen Instrumentalismus geprägt ist, von der Idee, dass sich bildungsphilosophische Prinzipien im Stile von Blaupausen technisch aufbereiten und realisieren lassen.

„Heute wäre Humboldt ein Verfechter von OER“

Dass es nun die vielbeschworene Bildungscloud ist, die in den Segen des manifestierten Bildungsideals kommt, spielt eigentlich keine Rolle. Problematisch ist der tiefsitzende Glaube einer technischen Umsetzbarkeit, der verkennt, dass es bei der Bildungsphilosophie nicht um ein algorithmenähnliches Regelwerk geht, sondern um Vorstellungen, Werte und Ziele, die in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zu Richtlinien von Bildungspraxis entwickelt werden können. Genau diese breite Basis fehlt dann in der von Meinel skizzierten Version, da es hier wie so oft in der Diskussion um die Digitalisierung der Bildung Softwareentwickler sind, die als Übersetzer abstrakter Prinzipien fungieren.

Meinel maskiert sozio-technologische Implikationen durch das pure Gewicht Humboldts, das bis zu einer letztlich unbegründbaren Parteinahme für technische Innovationen führt: „Heute wäre Humboldt ein Verfechter der Digitalisierung”. Doch wer Humboldts Bildungsbegriff und seinen humanistischen Rahmen in den aktuellen Entwicklungen wiederfinden will, sieht am ehesten die Open Educational Resources (OER) in der Tradition des preußischen Bildungsreformers, eine konstitutive Bedingung für „digitale Bildung“ und Ausprägungen wie die Bildungscloud. Auch Meinel skizziert die Vision, dass „sämtliche existierenden und zukünftigen Weiter- und Fortbildungsinhalte frei und jederzeit verfügbar sind“, lässt aber die konkrete rechtliche Umsetzung offen. Das ist bedauerlich, schließlich kommen OER nach über 15 Jahren langsam auch in Deutschland an. Sie erleichtern Bildung im digitalen Zeitalter, indem sie die Veränderung und Wiederverwertung von Materialien ermöglichen, ohne dass jedesmal der Urheber um Erlaubnis gefragt werden müsste.

Doch selbst die Einordnung von Open Educational Ressources in einen „digitalen Humanismus“ wirkt konstruiert. Hilft der Rückgriff auf Humboldt im aktuellen Diskurs zur Zukunft „digitaler Bildung” überhaupt weiter? Einerseits ist die Debatte überfrachtet mit Zuschreibungen, die sich mehr oder weniger direkt auf die Religion des Silicon Valleys beziehen und die gut von einem bildungsphilosophischen Korrektiv profitieren könnten. Andererseits stellen gerade vielfältige strukturelle Veränderungen und Umbrüche die Reichweite und Potenz der klassischen Bildungstheorie in Frage.

Verbesserung durch bloße Technik?

Überhöhung von TechnikDer Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder benennt Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als zentrale Merkmale einer entstehenden „Kultur der Digitalität“, da sie Einfluss auf die Art der Wissensgenerierung, -verarbeitung und -vermittlung nehmen. Gleichzeitig erweitern sie den Rahmen für Bildungsprozesse und fordern bisherige pädagogische Praktiken heraus. Die nun stattfindende Auseinandersetzung ist jedoch zu sehr geprägt vom Bild einer „digitalen Bildungsrevolution”, das auf einen Aktionismus abzielt – rasche digitale Aufrüstung an Schulen und Universitäten – und keine Zeit lässt, vernünftige didaktische Konzepte zu entwickeln. Stattdessen werden mit einer appellativen Rhetorik die segensreichen Wirkungen der software-gestützten Lösungen von Learning Analytics und Künstlicher Intelligenz verkauft: Sie tut, als sei gewissermaßen selbstverständlich, dass es dadurch zu Verbesserungen des Lernens und Lehrens komme, offen sei lediglich noch, wann es endlich losgehe.

Letztlich führt der aufgeheizte Digitalisierungsdiskurs zu einer grassierenden Sinnentleerung des Bildungsbegriffs. Es ist höchste Zeit für eine doppelte Rückbesinnung: Wir müssen uns zum einen über Inhalt, Reichweite und Ziele von Bildung im digitalen Zeitalter verständigen, ohne uns durch die Marktschreierei technischer „Lösungen“ ablenken zu lassen. Hier ist die Stimme der Bildungswissenschaft gefragt. Zum anderen sollten sich Bildungswissenschaftler und Informatiker in einer solchen Diskussion neugierig und lernbereit begegnen und nicht so tun, als gäbe es die jeweils andere Seite nicht. So könnten die ins Spiel gebrachten Thesen – wie im Fall von Meinel die Bildungscloud – kritisch diskutiert werden und sich perspektivisch zu einem revitalisierten Bildungsideal entwickeln.

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