Was bringt interkulturelle Onlinelehre in fragilen Kontexten? Ein Gastbeitrag von Dr. Katja Jung
Was bringt interkulturelle Onlinelehre in fragilen Kontexten? Ein Gastbeitrag von Dr. Katja Jung
23.09.19Blended-Learning-Modelle sind dazu in der Lage, Studierenden in fragilen Kontexten den Zugang zu internationalen Bildungschancen zu erleichtern. Ein neues Handbuch zeigt Geldgebern, Universitätsleitungen und Praktikern hierzu Leitlinien und Ideen auf, wie interkulturelle Onlinelehre gelingen kann.
Eine der bittersten Konsequenzen aus gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen und Kriegen besteht darin, dass erhebliche Teile der betroffenen studierfähigen Generation dauerhaft von wissenschaftlicher Bildung ausgeschlossen bleiben. Der durch Zerstörung bedingte Verlust der akademischen und personellen Infrastruktur, die Entscheidung zur Flucht oder auch das kontinuierliche Leben im politischen und ökonomischen Ausnahmezustand – all diese Umstände verhindern auf gravierende Weise, dass junge Menschen ein Studium aufnehmen oder ein Themengebiet wählen können, das ihren Talenten und Wünschen entspricht. Dass Onlinelehre hierauf eine überzeugende Antwort bieten kann, bildete die Arbeitshypothese des im Oktober 2013 an der Freien Universität Berlin etablierten Blended-Learning-Studiengangs MA Intellectual Encounters of the Islamicate World (MAIE). Kurz vor Ablauf der siebenjährigen Pilotphase erscheint nun ein Handbuch, das Geldgebern, Leitungsgremien und Praktikern mit ähnlichen Ambitionen Inspiration und Leitfaden sein soll. Es beschreibt die besonderen Entstehungsbedingungen des Studiengangs, stellt akademische und organisatorische Entscheidungen in ihren jeweiligen Kontext und vollzieht Revisionen sowie deren Hintergründe nach. Die Publikation kann auf verschiedene Weisen gelesen werden: chronologisch, themen- oder zielorientiert. Auf diese Weise reflektiert die Veröffentlichung die Komplexität eines Projekts, das nicht nur in einer Multi-Stakeholder-Umgebung tätig ist, sondern zugleich auch im fragilen Kontext des Nahostkonflikts.
Inhalt und Zielgruppe des MAIE
Gegenstand des Studiengangs ist die Vermittlung der Philosophie und Ideengeschichte der mittelalterlichen Welt des Islams. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem intensiven Wissensaustausch, der sich über Jahrhunderte zwischen den Schriftgelehrten der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam entwickelte. Der Studiengang nimmt diese spezielle Atmosphäre der intellektuellen Begegnung der Vergangenheit inhaltlich auf und überträgt sie in die Gegenwart, indem er sich primär an israelische und palästinensische Studierende wendet. Hinzu kommen Teilnehmer aus Ländern wie Afghanistan, Iran, Indonesien, Ägypten, Syrien, Türkei, Deutschland oder den Vereinigten Staaten. Die wechselnden Gastdozenten sind als Experten an Universitäten, Forschungsinstitutionen, Museen und Bibliotheken in der ganzen Welt tätig. Neben dem Ziel, Studierenden aus fragilen Kontexten Zugang zu internationalen Bildungschancen zu eröffnen, steht der Aspekt der Begegnung in einem akademisch geprägten Kontext im Vordergrund. Die Verlagerung von Lernen und Lehren ins Internet stellt die einzige Möglichkeit dar, um diejenigen miteinander in Kontakt zu bringen, die andernfalls aus politischen, religiösen, kulturellen oder geographischen Gründen kaum miteinander studieren könnten.
Der folgende Text konzentriert sich auf drei praktische Aspekte, die sich im Verlauf der Durchführung des Studiengangs als wertvolle Orientierungspunkte in der interkulturellen Onlinelehre erwiesen haben. Hierzu gehören das Aufbauen von Vertrauen durch persönliche Treffen, die Erzeugung von virtueller Sichtbarkeit und der Nutzen von Mikrofeedbacks im Onlineseminarraum.
Entwickeln von Vertrauen durch persönliche Begegnung
Als Blended-Learning-Studiengang verbindet der MAIE Präsenzveranstaltungen mit Onlinelehre. Brückenpfeilern ähnlich stützen die persönlichen Treffen den Verlauf des Studienjahres, denn sie bilden das verbindende Element zwischen den langen Onlinephasen. Dies gilt insbesondere für die Einführungswoche, an der alle Studierenden, Gastdozenten sowie das Organisationsteam teilnehmen. Sie liegt zeitlich vor der ersten Onlinephase und bildet das inhaltliche, technische und soziale Fundament des Studienjahrs.
Hier finden die Seminareinführungen, die systematische Einweisung in das LMS (in diesem Fall Blackboard) und die Webinar-Software Adobe Connect sowie die Erläuterung des akademischen Kalenders statt. Als Herzstück der Einführungswoche erweist sich stets das interkulturelle Coaching. Da sich die Teilnehmer durch höchst heterogene Bildungshintergründe, kulturelle Prägungen und Kommunikationsweisen auszeichnen, zielt dieses darauf ab, die Erwartungen und Perspektiven der einzelnen Teilnehmer in einen laufenden Prozess des Sichtbarmachens und Aushandelns einzubeziehen. Trennendes verschwindet damit nicht, erlaubt jedoch neuen gemeinsamen Erfahrungen Raum zu geben und einen enormen Motivationsschub für die erste Onlinephase zu produzieren. Zwei zweiwöchige Kolloquien in Berlin, die jeweils auf das Winter- und Sommersemester folgen, unterstützen diesen Effekt nachhaltig.
Die Erzeugung von virtueller Sichtbarkeit
Anders als bei MOOCs oder dem Inverted-classroom-Format findet die Lehre im Rahmen des MAIE primär in wöchentlichen Onlinesessions in Echtzeit statt. Da sich Dozierende und Studierende zum gleichen Zeitpunkt in einem virtuellen Raum einfinden, ähnelt die Seminarstruktur eher dem klassischen Format der Präsenzlehre. Mit dem Unterschied, dass die Teilnehmer über den gesamten Globus verteilt sind und sich in unterschiedlichen Zeitzonen befinden. Daher bedarf es der Darstellung der verbindlichen Anfangszeiten an einer zentralen Stelle des LMS. Dass dies mehr als nur eine Serviceleistung ist, zeigte sich gleich zu Beginn des Studiengangs. Denn zunächst lautete die Angabe für die israelischen und palästinensischen Teilnehmer gleichermaßen „Jerusalem, Israel“. Dies forderte augenblicklich eine Beschwerde heraus, wonach die palästinensische Seite damit unsichtbar bliebe. Hinzu kommt, dass der Wechsel zur Sommer- bzw. Winterzeit bisweilen an unterschiedlichen Tagen erfolgt. Seitdem hat es sich das Organisationsteam zur Regel gemacht, alle Aufenthaltsorte der Studierenden und Dozierenden im Vorhinein abzufragen und in einer gemeinsamen Liste aufzuführen.
Ebenso große Bedeutung für den Gesichtspunkt der Begegnung hat das Lehren und Lernen im Modus des unmittelbaren Hörens und Sehens. Die Organisatoren entschieden sich daher dafür, die Teilnehmerzahlen konsequent gering zu halten (maximal 20 Studierende), dafür aber dem Aspekt der gemeinsamen Erarbeitung von Themenstellungen im Plenum oder in kleinen Arbeitsgruppen den Vorrang zu geben. Gerade das regelmäßig eingesetzte Instrumentarium der sog. „break-out sessions“ mit bis zu 4 Teilnehmern birgt das Potential der emotionalen Einbeziehung aller in das Themengebiet. Zudem bieten diese den Raum für die Auseinandersetzung mit der Perspektive des „anderen“ – sei damit nun die Disziplin oder die Herkunft gemeint. Konkret zeigt sich dies daran, dass die im Plenum eher zurückhaltenden Studierenden stärker mitarbeiten. Darüber hinaus bieten die kleineren Arbeitsgruppen auch Raum für Dissens und Konfrontation, die in einer derart heterogenen Gruppe durchaus auftauchen. Diese eben nicht unsichtbar zu machen oder zu überspielen, ist möglich, da sie unter den Bedingungen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stattfinden.
Der Nutzen von Mikrofeedback
Lehre in einem synchronen Onlineseminarraum mit Teilnehmern aus der ganzen Welt und durchaus volatilen Internetverbindungen (unabhängig vom Entwicklungsstand der jeweiligen Region) produziert jedoch vor allen Dingen eines: Verzögerungen in der Übertragung. Diese 3 bis 5 Sekunden Pause erzeugt für Ungeübte Unsicherheit in der Kommunikation. Überschießende Höflichkeit führt dann entweder zu gleichzeitiger Intervention oder gleichzeitigem Schweigen. Eine der Lösungen, die das Projektteam daraufhin entwickelte ist ein Instrumentarium, das Mikrofeedbacks erlaubt. Das sog. Emotiboard ermöglicht schnelle automatisierte Reaktionen zu Situationen, die in Seminarräumen häufig auftreten. Die Aktionsfläche verbindet ein visuelles mit einem akustischen Signal, um damit Handzeichen zu geben bzw. Zustimmung, Ablehnung bzw. Anerkennung zu äußern. Die nutzerfreundliche Interaktionsfläche erlaubt Kommunikation in beide Richtungen und aktiviert Dozierende und Studierende gleichermaßen.
Vertrauen, Sichtbarkeit und Engagement – alle drei Aspekte spielen eine zentrale Rolle für das interkulturelle Onlinelehre und das Gelingen von Distant-Learning-Formaten in fragilen Kontexten. Wenn digitale Lehre kein Selbstzweck ist, sondern sich auf ihren Nutzen hin befragen lassen muss, dann besteht ihre Berechtigung auch darin, nicht nur Zugang zu internationalen Bildungschancen zu bieten, sondern auch zum symbolischen Kapital der akademischen Gemeinschaft.
Handbuch als fortdauernde Wissensressource für interkulturelle Onlinelehre
Im Dezember 2019 endet das durch den Deutschen Akademischen Auslandsdienst aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanzierte Pilotprojekt MAIE vorerst. Das nun erschienene Handbuch fasst die verschiedenen Phasen des Projekts zusammen und zeigt die im Verlauf entwickelten Lösungswege für konkrete Fragestellungen auf. Diese reichen von der Entwicklung des Curriculums über Entscheidungen zum Onlinezuschnitt der Seminare und des LMS bis hin zum Umgang mit diversen Stakeholdern oder lokalen Anerkennungsbedingungen des Abschlusses.
Das Handbuch kann unter diesem Link heruntergeladen werden.