Virtueller Klassenraum: den Umgang mit Unterrichtsstörungen trainieren

Virtueller Klassenraum: den Umgang mit Unterrichtsstörungen trainieren

18.06.18

Prisca Paulicke und Axel Wiepke stellen in ihrem Beitrag einen Prototyp eines virtuellen Trainings vor, das zum Umgang mit Unterrichtsstörungen an der Universität Potsdam im Kontext der bildungswissenschaftlichen Ausbildung von Lehramtsstudierenden eingesetzt wird. Der Fokus der virtuellen Entwicklung liegt auf einem situativen Coaching von Lehramtsstudierenden zur Erhöhung ihres Handlungswissens bei störendem Schülerinnen- und Schülerverhalten. Der beschriebene Lehr- und Forschungsbeitrag wurde im Rahmen des Wettbewerbs „Gelungene VR/AR-Lernszenarien 2018“ vom Stifterverband und dem Arbeitskreis VR/AR-Learning der GI-Fachgruppen E-Learning und VR&AR in der Kategorie „VR in der Hochschullehre“ ausgezeichnet.

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Hintergrund und Problem

Unterrichtsstörungen stellen sowohl für die Lehrperson als auch für die Schülerinnen und Schüler eine schwerwiegende Herausforderung und psychische Belastung dar. Wie Lehramtsstudierende reagieren sollen, wenn Schülerinnen und Schüler in ihrem Unterricht nicht mitarbeiten oder gar massiv den Unterricht stören, wird im Lehramtsstudium eher selten, meist jedoch in bildungswissenschaftlichen Modulen zum Thema Klassenmanagement (classroom management) aufgegriffen. Unter einem gelungenen Klassenmanagement wird Unterricht verstanden, in welchem alle Schülerinnen und Schüler bei niedriger Störungsrate gut mitarbeiten (Kounin 2006).

Zur Ausbildung dieser fachübergreifenden Kompetenz werden von den Dozierenden in den Lehrveranstaltungen deshalb unterschiedliche Instrumente (z.B. Texte, Rollenspiele, Unterrichtsvideos) eingesetzt. Derzeit stehen für die universitäre Hochschullehre jedoch wenig freie und aktuelle Filmmaterialien zur Verfügung, die authentische Unterrichtsstörungen zeigen. Durch mehrperspektivische Aufnahmetechniken ist aktuelles und seltenes Filmmaterial vorhanden (Paulicke, Schmidt, Ehmke 2015), das jedoch durch die personenbezogenen Daten geschützt ist und nur einem eingeschränkten Nutzerkreis bereitgestellt werden kann. Dass das videobasierte Training einen Wissenszuwachs zum Umgang mit Unterrichtsstörungen bei den Studierenden bewirkt, wissen wir bereits. Ob die Ausbildung mit Unterrichtsvideos einen Zuwachs an Handlungswissen (prozedurales Wissen) (Bromme 2008) bei den Studierenden erreicht, konnte erst in wenigen Befunden nachgewiesen werden (Hamre 2012).

VR-Umgebungen könnten in diesem Kontext vermehrt an Bedeutung gewinnen (Bailenson et al 2008). Derzeit bestehen einige Konzepte sowie Projekte, die die Forschungslücke zur Ausbildung der Handlungskomponente bei Lehramtsstudierenden erkannt haben und Lösungen mit der Hilfe von VR-Techniken adressieren (Hayes et al 2013, Latoschik et al 2016, Breitenbach, Tolweth 2017). Abschließende Nutzungsszenarien oder empirische Befunde bestehen nach derzeitigem Stand nicht. Durch das Fehlen des personenbezogenen Datenschutzes sowie durch die in Studien nachgewiesene Presence (Heeter 1992), könnten VR-Umgebungen für das Problem der Sichtbarkeit von Unterrichtsstörungen eine effiziente inneruniversitäre Testumgebung darstellen, um ein präventives Handlungstraining durchzuführen.

Unsere Lösung: VR-Klassenraum

Das Projekt verfolgt das zentrale Ziel, die Studierenden in einen Unterricht mit theoriegeleiteten und bekannten Störungen hineinzuversetzen, in welchem sie aus einem eigenen Handlungsrepertoire schöpfen und adaptiv agieren können. Dafür wird ein VR-Klassenraum auf der Grundlage skalierbarer Unterrichtsstörungen entwickelt.

Während des Trainings erfolgt immer eine Interaktion zwischen einem Dozierenden (sog. Coach) und dem Studierenden. Der Studierende betritt dabei die virtuelle Umgebung (vgl. Abb.1) und hält eine kurze Unterrichtseinheit in seinem Unterrichtsfach (z.B. einen Unterrichtseinstieg im Fach Geschichte). Während der Zeit kann der Coach von außen das Verhalten der virtuellen Schülerinnen und Schüler manipulieren und zielgerichtet die individuellen Kompetenzen des Studierenden monitoren und fördern. In interessanten Momenten kann das Programm pausiert werden, sodass der Coach oder ggf. auch das Auditorium dem Studierenden Rückmeldung geben.

Für die Arbeit mit der VR-Umgebung werden spezifische Lernziele verfolgt. Zunächst sollen die kognitiven Kompetenzen der Studierenden durch theoriegeleitetes Wissen zur Klassenführung, zur professionellen Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen und zur Gefahr einer Stereotypisierung von sog. Problemschülerinnen und -schülern ausgebildet werden. Darauf aufbauend sollen die Studierenden in der VR-Umgebung vor allem ihre situativen Handlungskompetenzen stärken, welche zum einen ein präventives Monitoring der Störungen (Kounin 2006) und zum anderen adaptive, zielgerichtete Interventionen beinhalten.

Design und Bedienung des virtuellen Trainings

In der gegenwärtigen Umgebung wird das Head Mounted Display (eine VR-Brille) und die Controller von dem Studierenden genutzt, während der Coach am PC die Weboberfläche in einem Browser öffnet, mit der er die virtuelle Welt manipulieren kann (vgl. Abb.2). Innerhalb der Anwendung kann sich der Studierende durch reale Bewegungen frei im Raum bewegen oder durch Teleportation seine Position ändern. Der Coach kann den Aufbau des virtuellen Klassenraumes im Browser sehen, Schülerinnen und Schüler mittels Klick anwählen und im Dropdown Menü eine Störung auslösen. Dadurch entsteht eine Interaktion vom Coach zum Studierenden über die virtuellen Schülerinnen und Schüler. Die Interaktion des Studierenden in der VR-Umgebung können die Kommilitonen auf einer Leinwand kriteriengeleitet beobachten und anschließend gemeinsam mit dem Studierenden und mit dem Dozierenden/ Coach reflektieren.

In einer ersten Pilotierung wurde das Maß der Immersion von zwei Experten (im Kontext Bildungswissenschaft und Schule) sowie von fünf Studierenden getestet. Durch die detaillierten Charaktermodelle, die realistische Geräuschkulisse und den eigenen sichtbaren Avatar ist ein spürbares Maß an Immersion vorhanden. Die Ergebnisse zeigen zufriedenstellende Werte. Eine weiterführende Evaluation der Umgebung ist im Rahmen eines bildungswissenschaftlichen Lehrangebots im Wintersemester 2018/2019 geplant.

Ausblick

Das beschriebene Training verlangt für die Funktion des Coaches einen bildungswissenschaftlichen Experten. Die adaptive Skalierung der Störungen im Zusammenhang mit den Handlungen des Studierenden ist eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, die zunächst eingeübt werden muss. Darüber hinaus bleibt in der Interpretation der antizipierten Ergebnisse (Erhöhung des prozeduralen Handlungswissens) eine Einschränkung bestehen: Es handelt sich letztlich um den Umgang mit virtuellen Schülerinnen und Schülern. Wir wissen nicht, wie ihre „realen” Gegenspieler und die Studierenden in der realen Welt tatsächlich agieren – vorbereiten möchten wir sie trotzdem. Hierzu sind ein Austausch mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Forschungsfeld sowie eine Open-Source-Zugänglichkeit zur Weiterentwicklung der Umgebung, evtl. auch als Prüfungsumgebung, geplant.

Übrigens werden Axel Wiepke und Prisca Paulicke mit ihrem Lernszenario auch beim 2. VR/AR-Workshop auf der DeLFI & HDI 2018 vertreten sein. 

Referenzen

Bailenson, J. et.al.: The use of immersive virtual reality in the learning sciences: Digital transformations of teachers, students, and social context. Journal of the Learning Sciences, S.102-141, 2008.

Breitenbach, S.; Tolweth, B.: Entwicklung der VR-Lernumgebung Clasivir für Lehramtsstudierende. Postersession. DGfE Tagung 4.11.2017.

Bromme, R.: Lehrerexpertise. In W. Schneider, & M. Hasselhorn (Eds.), Handbuch der Pädagogischen Psychologie S. 159-167, 2008.

Hamre, B.; et.al.: A Course on Effective Teacher-Child Interactions: Effects on Teacher Beliefs, Knowledge, and Observed Practice. American Educational Research Journal, Vol. 49, S. 88 – 123, 2012.

Hayes, A. et.al.: Ludic learning:   Exploration of TLE TeachLivE and effective teacher training. International Journal of Gaming and Computer-Mediated Simulations, S. 20-33, 2013.

Heeter, C.: Being there: the subjective experience of presence. Presence: Teleoperators & Virtual Environments, S. 262-271, 1992.

Kounin, J.: Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik. Reprints. Münster: Waxmann, 2006.

Latoschik, M. et.al.: Breaking Bad Behavior: Immersive Training of Class Room Management, In Proceedings of the 22nd ACM Conference on Virtual Reality Software and Technology, S. 317-318. 2016.

Paulicke, P.; Schmidt, T.; Ehmke, T.: „Hier werden Parallelwelten im Unterricht sichtbar“ – Multiperspektivische Unterrichtsvideos in der universitären LehrerInnenausbildung. S. 15-27, 2015.

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