Prüfungsplattformen an Hochschulen im Wandel – der Einfluss von Corona auf Prüfungsformate
Prüfungsplattformen an Hochschulen im Wandel – der Einfluss von Corona auf Prüfungsformate
16.12.20Aus dem ersten bundesweiten Onlinesemester lassen sich Schlussfolgerungen zur Ausgestaltung von Prüfungsplattformen in Hochschulen ableiten. Insbesondere hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit, Rechtssicherheit und des Funktionsumfangs. Diese können direkt durch die Erfordernisse des Onlinesemesters bedingt sein. Oder ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass der geweckte Bedarf zukünftig bestehen bleibt. Das Prüfungssetting zu Hause am eigenen Rechner verschärft Besonderheiten derzeitiger Prüfungsplattformen, die bisher in digital durchgeführten Präsenzprüfungen durch persönliche Betreuung im E-Assessment-Center kompensiert werden konnten. Dieser Beitrag soll wichtige Aspekte aus der Perspektive eines Servicemitarbeiters und beteiligter Prüfungsgremien aufgreifen und beschränkt sich auf summative Prüfungsformate, die schriftlich auf einer digitalen Prüfungsplattform durchgeführt werden [1].
Unzureichende Eignung von Lernmanagementsystemen als Prüfungsplattformen
Die Verwendung eines Lernmanagementsystems als Prüfungsplattform hat den Vorteil, die Akzeptanz und die Handhabbarkeit der Prüfungsumgebung durch eine identisch aufgebaute Lernumgebung zu fördern und die Interoperabilität durch den vereinfachten Export von Prüfungsaufgaben zu erhöhen. Dennoch sind Lernmanagementsysteme nicht per se als Prüfungsplattformen geeignet. E-Prüfungen haben spezifische organisatorische, rechtliche und technische Anforderungen: zum Beispiel bei der Prüfungsanmeldung, Teilnehmer*innenauthentifizerung, Prüfungsbelehrung, Prüfungskommunikation, Prüfungseinsicht und Prüfungsarchivierung. Eine dauerhafte Adaption der für den Selbstlernkontext erstellten Funktionen von Lernmanagementsystemen an digitale Prüfungsszenarien führt nicht zu einer Professionalisierung und Zuverlässigkeit digital abgelegter Hochschulprüfungen. Die Auswirkungen reichen von sprachlicher Unbestimmtheit bis zu prüfungsrechtlicher Unvereinbarkeit.
Prüfungsrechtlich lässt sich Usability mit Eindeutigkeit umschreiben, aber gerade diese im Prüfungskontext erforderliche Eindeutigkeit lässt sich durch die Umfunktionierung von Lernmanagementsystemen erschwert erzielen. Eine Herauslösung der Prüfungsplattform vom Lernmanagementsystem und dessen separate Weiterentwicklung wäre ein Lösungsansatz. Alternativ wäre eine Weiterentwicklung der betreffenden Funktionen des Lernmanagementsystems unter stärkerem Prüfungsfokus möglich, zum Beispiel durch separate Objekte für Prüfungsformate und Übungsformate.
Originäre Unterstützung neuer Prüfungsformate
Mit der Take-Home-Klausur hat sich ein Prüfungsformat etabliert, dessen Bearbeitung nicht vollständig auf der Prüfungsplattform durchgeführt wird, sondern die Prüfungsplattform zur terminierten Bereitstellung der Prüfungsaufgaben sowie der fristgerechten Einreichung der Prüfungslösungen verwendet wird. Die eigentliche Bearbeitung der Prüfungsaufgaben erfolgt am eigenen Rechner oder papierbasiert. Mit der Bereitstellung und Einreichung der Prüfungsdokumente sind höhere prüfungsrechtliche Anforderungen als an ein Übungsszenario verbunden. Insbesondere die fristgerechte Einreichungszeit unter Berücksichtigung unterschiedlicher individueller Uploadgeschwindigkeiten als auch die Verbindlichkeit eines einmal eingereichten Prüfungsdokuments erfordern die Schärfung verfügbarer Uploadmöglichkeiten. Der prüfungsrechtlich für häusliche Prüfungsleistungen gebotenen Schriftform kann bei Take-Home-Klausuren durch eine qualifizierte elektronische Signatur entsprochen werden [2]. Hier wird deutlich, dass die Erfordernisse einer Take-Home-Klausur nicht mit denen einer Übungsaufgabe gleichzusetzen sind.
Notwendigkeit randomisierter und angepasster Prüfungsaufgaben
Die Defizite in der Beaufsichtigung von Onlineklausuren können unter anderem durch randomisierte Prüfungsformate kompensiert werden. Neben der Durchmischung der Antwortoptionen, der Durchmischung der Prüfungsaufgaben und der Zufallsziehung aus Fragenpools haben Formelaufgaben unter Verwendung zufälliger Variablen einen hohen Stellenwert bei der Randomisierung von Onlineklausuren. Hierbei weisen derzeitige kommerzielle Prüfungssysteme durch ihre Fokussierung auf Multiple-Choice-Formate deutliche Schwächen auf. Im Extrem führen unbeaufsichtigte Onlineklausuren im Antwort-Wahl-Verfahren ohne Berücksichtigung ohnehin gegebener Ratewahrscheinlichkeiten [3] unter dem zusätzlichen Einfluss mutmaßlicher Absprachen zu vollkommen undifferenzierten Bewertungen. Auf der Prüfungsplattform integrierte Nachkorrekturmöglichkeiten sollten den Prüfer*innen auch bei der Nutzung der Randomisierungsoptionen uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Alternativ zur Randomisierung hat sich die Umgestaltung von Prüfungsaufgaben in Freitextformate und die Erweiterung zugelassener Hilfsmittel sogenannter Open-Book-Klausuren als besonders korrekturaufwändig, aber weniger täuschungsanfällig, erwiesen. In der Praxis führt dies jedoch bei großen Prüfungskohorten an Grenzen. Darüber hinaus ist auch für andere Prüfungsformate, wie Take-Home-Klausuren, die Bereitstellung von Prüfungsaufgaben für randomisierte Prüfungsgruppen erforderlich.
Erweiterte integrierte Authentifizierungsmethoden
Erweiterte Authentifizierungsmöglichkeiten sollen zum Einsatz kommen, wo es nicht möglich ist, den Gerätewechsel von Prüfungsteilnehmer*innen durch die persönliche Beaufsichtigung zu verhindern. Die Authentifizierung von Prüfungsteilnehmer*innen sollte in Anlehnung an eine Mehr-Faktoren-Authentifizierung über verschiedene Mechanismen zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgen. Die Authentifizierung erfolgt hierbei nicht ausschließlich über eine Passwortabfrage beim Login in die Prüfungsplattform, sondern wird um ein personenbezogenes Merkmal ergänzt, das nur während der Prüfung verfügbar ist. Dies kann ein Selfie zusammen mit einer individuellen Prüfungsnummer oder dem bearbeiteten Aufgabenblatt sein. Die Prüfungsplattform sollte es ermöglichen, die zusätzliche Authentifizierung ad hoc zu einem zufälligen Zeitpunkt während der Prüfung innerhalb eines begrenzten Zeitfensters durchzuführen. Für die Dauer der zusätzlich durchgeführten Authentifizierung wird dem*der Prüfungsteilnehmer*in ein Zeitzuschlag gegeben.
Prüfungen dauern länger als die Bearbeitungszeit
Grundsätzlich steht jedem*jeder Prüfungsteilnehmer*in die volle Bearbeitungszeit zur tatsächlichen Bearbeitung der Prüfungsaufgaben zu, weshalb ein sekundengenaues Timing unstrittig ist. Auch über die reine Bearbeitungszeit hinaus sollte das Klausurende in geregelter Form ablaufen. Das Ausschöpfen der Bearbeitungszeit darf das endgültige Speichern, Bestätigungen zur Klausurabgabe oder nachgelagerte Informationen nicht beeinflussen. Für zusätzliche Uploads handschriftlicher Berechnungen sollte nach einer Onlineklausur ein an die persönliche Abgabezeit angepasstes Zeitfenster bereitstehen. Individuelle Schreibzeitverlängerungen oder für den Klausurstart eingeräumte Zeitpuffer dürfen dieses Zeitmanagement nicht durcheinander bringen. Die Einstellungen zu Klausurzeiten müssen deshalb soweit vom technischen Rechtemanagement entkoppelt werden, dass das Ausschöpfen der Bearbeitungszeit nicht zu ausbleibenden Bestätigungen oder technischen Fehlermeldungen führt. Die Erfordernis eines geregelten Ablaufs und differenzierter Rückmeldungen nach Beenden der Bearbeitungszeit zeigt sich im erhöhten Supportaufkommen in dieser Klausurphase. Hier lässt sich das Vertrauen in die Prüfungsplattform und die Akzeptanz von Onlineklausuren aus Teilnehmer*innensicht stärken.
Editierung fließtextbasierter Klausurformate
Fließtextbasierte Klausurformate, zum Beispiel in den Rechtswissenschaften oder Geisteswissenschaften, sollten durch speziell gestaltete Texteditoren unterstützt werden. Diese erfordern in der Regel eine vollformatige Bildschirmansicht, entsprechende Formatierungs- und Strukturierungsmöglichkeiten und zuverlässiges Speicherverhalten auch bei temporärem Offlinestatus. Regelmäßiges visuelles Feedback kann die Nutzer*innen über erfolgreiches automatisches Zwischenspeichern und die Synchronität der verbleibenden Bearbeitungszeit informieren.
Integrierte Liveunterstützung durch die Aufsichtspersonen
Die Prüfungsplattform erfordert eine direkte Einbindung eines Kommunikationswerkzeugs zur fachlichen und technischen Betreuung von Prüfungen. Während sich parallele Videokonferenzen allenfalls für kleinere Kohorten eignen, ist der Livechat das bevorzugte Werkzeug für größere Kohorten. Dabei ist nicht nur die individuelle Rückfrage eines*einer Teilnehmers*Teilnehmerin an die Aufsichtsperson erforderlich, sondern gleichermaßen eine von der Aufsichtsperson ausgehende Kommunikationsmöglichkeit mit einem*einer Teilnehmer*in einzeln oder mit allen Prüfungsteilnehmer*innen gleichzeitig nötig. Werkzeuge zur Liveunterstützung sollten prüfungsbezogen bereitgestellt werden und darüber erfolgte Kommunikation im Umfang der erforderlichen Dokumentationspflichten gespeichert und archiviert werden.
Unversehrtheit und Dokumentation von Prüfungsleistungen
Alle Prüfungsaktivitäten, insbesondere während der Anfertigung der Prüfungsleistung und der Korrektur, müssen einer lückenlosen Dokumentation und Reproduzierbarkeit unterliegen. Sowohl Datenverlust beim Speichern als auch Eingriffe durch fachliche oder technische Betreuer müssen konsequent ausgeschlossen werden. Neben einer persönlichen elektronischen Signierung der Prüfungsdokumente ermöglicht die Nutzung blockchainbasierter Technologien eine transparente und lückenlose Dokumentation der Prüfungsaktivitäten. Damit Prüfungseinsichten online erfolgen können und Onlineprüfungen digital archiviert werden können, müssen sich Nachkorrekturen über alle Fragentypen und Randomisierungsoptionen hinweg vollständig auf der Prüfungsplattform bewerkstelligen lassen und einzelne Fragen im Bedarfsfall nachträglich entfernen und herausrechnen lassen. Die Reproduzierbarkeit und Verbindlichkeit von Prüfungsergebnissen muss auch zeitversetzt über verschiedene Versionen einer Prüfungsplattform hinweg gewährleistet bleiben. Im Rahmen von Updates dürfen Änderungen an Korrekturalgorithmen nicht zur nachträglichen Veränderung bereits abgeschlossener Prüfungen führen.
Beaufsichtigung von Onlineprüfungen zu Hause
Ein großes Defizit besteht in der Beaufsichtigung von Onlineprüfungen, die in den eigenen Räumen der Prüfungsteilnehmer*innen geschrieben werden. Nichtsdestotrotz wird diese Prüfungsform vom eigenen Rechner aus durch die Prüfer*innen auch zukünftig als relevant erachtet. Hierfür ist die Anbindung oder Integration von Proctoringlösungen erforderlich. Diese müssen die Authentifizierung der Prüfungsteilnehmer*innen unterstützen, eine täuschungssichere Prüfungsumgebung auf dem Rechner der Prüfungsteilnehmer*innen herstellen, die Prüfungsbearbeitung dokumentieren und Abweichungen von der zulässigen Prüfungsumgebung registrieren. Eine triggerbasierte Überwachungslösung kann personell als auch datenkapazitiv ressourcenschonend gestaltet werden: sowohl stichprobenartig als auch bei der Erkennung täuschungsrelevanter Trigger erfolgt eine Aufzeichnung des Prüfungsgeschehens zur manuellen Beurteilung durch die Prüfungsaufsicht. Täuschungsrelevante Trigger können Abweichungen der zulässigen Systemkonfiguration, Ergebnisse einer Gesichtserkennung oder akustische Hinweise darstellen. Die manuelle Beurteilung durch die Prüfungsaufsicht lässt sich durch Verfahren des maschinellen Lernens unterstützen. Mit selbst gehosteten Ansätzen ließen sich prüfungsrechtliche Dokumentationspflichten datenschutzfreundlich erfüllen.
Tabletbasierte Durchführung von Klausuren
Der coronabedingte Umstieg auf Onlineklausuren wird auch zukünftig zu einer erhöhten Nachfrage nach E-Prüfungen großer Kohorten führen, wofür die E-Assessment-Center der Hochschulen nicht ausgelegt sind. Auf eine erhöhte Nachfrage nach E-Prüfungen kann unter anderem durch eine temporäre Umnutzung von Hörsälen als Prüfungsräumen reagiert werden. Eingeschränktem Platz und mangelnder Stromversorgung in Hörsälen kann durch den Einsatz von Tablets begegnet werden. Für dieses Szenario benötigt die Prüfungsplattform einen Tabletmodus, der die Performance kabelloser Datenübertragung, ein mobiles User Interface und ein lokales Backup während Offlinephasen ermöglicht. Die mobile Darstellung und Bearbeitung häufiger Fragentypen im Antwort-Wahl-Verfahren, Lückentextformate oder Zeichenaufgaben ist machbar. Als weitere Möglichkeit, steigenden Teilnehmer*innenzahlen zu begegnen, kann ein Bring-your-own-Device-Konzept in Erwägung gezogen werden. Ein systemübergreifend verfügbarer Kioskmodus und begrenzte Supportmöglichkeiten individueller Endgeräte stellen dabei Herausforderungen dar. Eine organisatorische Lösung durch die Aufteilung aufeinanderfolgender Prüfungsgruppen findet in der Praxis hingegen wenig Akzeptanz.
[1] Der Status quo spezifischer Funktionalitäten bezieht sich auf das Lernmanagementsystem Ilias 5.3, das in separater Instanz als Prüfungsplattform betrieben werden kann. Ungeachtet dieser Überlegungen handelt es sich hierbei um eine der derzeit elaboriertesten Open-Source-Plattformen zur Durchführung von E-Klausuren.
[2] Zur gebotenen Schriftform vergleiche Niehues, N., Fischer, E., Jeremias C. (2018). Prüfungsrecht (7. Auflage). München: Beck.
[3] Zur Ratewahrscheinlichkeit bei Klausuren im Antwort-Wahl-Verfahren vergleiche Lukas, J., Melzer, A., Much, S., Eisentraut, S. (2017). Auswertung von Klausuren im Antwort-Wahl-Format. https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:2-66099.