Kollaborativ lehren und lernen: digital, vernetzt, interuniversitär. Das Lehrexperiment L2D2
Kollaborativ lehren und lernen: digital, vernetzt, interuniversitär. Das Lehrexperiment L2D2
15.07.20Im Wintersemester 2019/20 führen vier Hochschulen ein gemeinsames hochschulübergreifendes Seminar zum Thema „Lehren und Lernen unter den Bedingungen von Digitalisierung und Digitalität”, kurz L2D2, durch. Der Beitrag beschreibt das Konzept und die zugrundeliegenden Modelle für Medienkompetenz dieser Lehrveranstaltung und geht dabei auf die besonderen Rahmenbedingung eines digital durchgeführten Seminars ein. Er beschreibt die Relevanz der Inhalte und skizziert den Ablauf des Seminars, mit dem angehende Pädagog*innen auf eine berufliche Zukunft in einer zunehmend digital geprägten Bildungslandschaft vorbereitet werden. Abschließend zeigt der Beitrag Punkte auf, die bei der Konzeption einer solchen Lehrveranstaltung beachtet werden können und sollten, um sie für Dozierende und Studierende zu einer Bereicherung der eigenen Bildungsbiografie werden zu lassen.
1. Lehren und Lernen unter den Bedingungen der Digitalisierung und Digitalität
Um der mit der Digitalisierung und Digitalität einhergehenden digitalen Transformation nicht nur inhaltlich, sondern auch konzeptionell zu entsprechen, haben sich vier Hochschulen für das Wintersemester 2019/2020 zu einem gemeinsamen Lehrexperiment zusammengeschlossen: Zeitgleich bieten die beteiligten Institutionen das Seminar „L2D2 – Lehren und Lernen unter den Bedingungen der Digitalisierung und Digitalität” an, in dem erarbeitet wird, was die „Kultur der Digitalität“ für Lehrende und Lernende bedeutet und wie wir in diesem sich vollziehenden Wandel guten Unterricht für unsere Studierenden bzw. Schüler*innen gestalten können.
Während Digitalisierung gemeinhin den Leitmedienwechsel vom Buch zum Computer beschreibt, charakterisiert Digitalität die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen. Der Prozess der Digitalisierung und die damit verbundenen komplexen Technologien ermöglichen es immer mehr Menschen, auf vielfältige Art und Weise an kulturellen Auseinandersetzungen partizipieren zu können. Die daraus resultierende „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016) ist vor diesem Hintergrund geprägt durch Prozesse der Sozialität, Kommunikation, Interaktion, Kollaboration und Partizipation und bestimmt von Prozessen der Vernetzung, des Filterns, des Auswählens sowie von Algorithmizität, Referentialität und Gemeinschaftlichkeit (vgl. Stalder, 2016, 2018).
Wenn digitale Medien jedoch nicht nur als Werkzeug bzw. Instrumente des Lehrens und Lernens, sondern auch und insbesondere in ihren kulturprägenden und disruptiven Auswirkungen verstanden werden müssen, hat dies für den Bildungsdiskurs weitreichende Konsequenzen: Digitale Medien werden zur Basis für neue Strukturbedingungen des rezeptiven und produktiven, des persönlichen und kollektiven, des kommunikativen, interaktiven, kollaborativen und partizipativen Lehrens und Lernens. Diskussionen über Digitalisierung und Bildung dürfen so nicht länger um Überlegungen zur Ausstattung der Schulen und Universitäten mit digitalen Endgeräten und deren Mehrwert kreisen, sondern müssen durch eine Didaktik ergänzt – wenn nicht ersetzt – werden, die den kulturellen Veränderungen im Zeichen der Digitalisierung Rechnung trägt. Alte Handlungs- und Denkmuster müssen zunehmend kritisch hinterfragt werden und die Auswirkungen des digitalen Wandels konstruktiv genutzt werden (vgl. Albrecht/Frederking, 2020). Diesem Anspruch versucht das hier skizzierte Lehrexperiment zu entsprechen.
2. Das Seminar L2D2
Das Lehrexperiment L2D2 ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von vier Hochschulstandorten (Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Georg-August-Universität Göttingen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Die Seminarkonzeption verfolgt das Ziel, das 4K-Modell des Lernens (P21, 2019) aktiv in der eigenen Lehre umzusetzen: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Damit werden eben die Kompetenzen betont, denen besondere Bedeutung für das Lernen im 21. Jahrhundert zugeschrieben werden. Da die Zusammenarbeit sowohl auf Ebene der Lehrenden als auch der Studierenden stattfindet, sind alle Beteiligten aufgefordert, sich mit den 4K auseinanderzusetzen und schließlich unmittelbar anzuwenden. Das Seminar L2D2 nimmt folglich nicht allein die Kompetenzprogression der Studierenden in den Blick, sondern eröffnet auch den beteiligten Lehrenden die Möglichkeit, das eigene professionelle Handeln im Seminarkontext weiterzuentwickeln. Der konzeptionelle Kern ist die Vernetzung und die Interaktion aller Beteiligten: Jeder Standort übernimmt entsprechend der jeweiligen Lehr- und Forschungsexpertise federführend Schwerpunktthemen (z.B. Medienkompetenzmodelle, Einführung in Algorithmen im Bildungsbereich oder digitale Lehrmethoden mit Videos bzw. Inverted Classroom) für die Sitzungen des Seminars (siehe Kap. 5). Die Lehrveranstaltung als Gesamtheit stellt folgende Fragen, die als „roter Faden” die modularen Bestandteile des Seminars verbinden, in den Fokus:
- Was bedeutet die Kultur der Digitalität für Lehrende und Lernende?
- Was zeichnet qualitätsvollen Unterricht unter den Bedingungen der Digitalisierung und Digitalität aus?
Die Idee, die mit L2D2 verfolgt wird, fordert und fördert Studierende wie Dozierende gleichermaßen bei der produktiven Auseinandersetzung mit der Frage, wie Digitalität das Lehren und Lernen verändert.
Die entstehenden Sitzungspläne sowie Lehr- und Lernmaterialien des Seminars werden als Open Educational Resources (OER) konzipiert, um eine einfache Weiternutzung zu ermöglichen. Um sich über Fragestellungen aus den unterschiedlichen fachlichen Disziplinen interdisziplinär austauschen zu können, kommunizieren und kollaborieren alle Teilnehmenden über webbasierte Instant-Messaging-Dienste, Social Media, Webkonferenzen und File-Sharing-Dienste. In jeder Seminarsitzung finden Phasen des internen sowie des hochschulübergreifenden Arbeitens statt:
- Input: Im Vorfeld zu jeder Sitzung werden Materialien und Aufgaben online durch die Seminarleitungen der jeweiligen Standorte für die Studierenden bereitgestellt. Zusätzlich bereitet der/die Expert*in der spezifischen Sitzung einen medial ausgestalteten Input vor, z.B. Webinare, Erklärvideos oder Selbstlerneinheiten.
- Vernetzung: Die Studierenden diskutierten im Rahmen des Seminars mit Hilfe verschiedener Kommunikations- und Kollaborationstools und speisen die Ergebnisse in Form von Fragen und Impulse in die öffentliche, außeruniversitäre Diskussion auf Twitter unter dem Hashtag #L2D2 ein. Die Phasen des standortübergreifenden Austauschs zielen auf das Aufgreifen und Weiterdenken von Fragestellungen, Problemen oder Feststellungen aus den jeweiligen Sitzungen ab. Auf diese Weise erhalten die Studierenden Einblick in die Arbeitsergebnisse der anderen Standorte und setzten sich kritisch mit diesen auseinander.
Dabei verfolgt L2D2 das Ziel, den Studierenden Gestaltungsmöglichkeiten einer digital geprägten Lernkultur aufzuzeigen und die Reflexion der Prozesse und Auswirkungen der Digitalisierung und Digitalität anzuregen.
Weiterhin orientiert sich das Seminar L2D2 am Ansatz des projektbasierten Lernens (vgl. Bell, 2010): In der zweiten Hälfte des Semesters beginnt eine Projektphase, in der die Studierenden auf Basis der Kenntnisse aus den vorangegangen, theoretisch orientierten Sitzungen eigene Medienprodukte entwickeln, bspw. Lernmaterialien, Weiterbildungskonzepte, Videos etc. Die Studierenden arbeiten in dieser Phase in betreuten Kleingruppen und konzipieren gemeinsam eine Projektidee, setzten diese in einem konkreten Medienprodukt um und dokumentieren den Arbeitsprozess in einem E-Portfolio. Die Ergebnisse der Projektarbeit werden ebenso wie alle weiteren Materialien des Seminars L2D2 als OER aufbereitet und nach Abschluss des Semesters digital auf der Website des Lehrprojekts zur Verfügung gestellt.
Die Idee, sich digital über die Grenzen des eigenen Seminarraums hinweg zu vernetzen, gemeinsam zu diskutieren und zu kollaborieren, Wissen gemeinsam zu generieren und zu reflektieren sowie Forschungsergebnisse, -standpunkte und -kontroversen kritisch im Austausch zu diskutieren, entspricht – insbesondere unter den Bedingungen der Digitalisierung und Digitalität – meiner Vorstellung von zeitgemäßer Lehre.
Die Lehrveranstaltung wird im Wintersemester 2019/20 an drei Standorten überwiegend in der Lehramtsausbildung durchgeführt, mit einem einheitlichen Verfahren evaluiert (vgl. Craanen, 2011) und auf Basis der Ergebnisse weiterentwickelt. Perspektivisch sollen in Zukunft weitere Standorte die Lehrveranstaltung anbieten können und das Seminar inhaltlich ergänzen. Auf diese Weise werden die räumlichen Grenzen des eigenen Studienortes aller Seminarteilnehmer*innen aufgelöst (vgl. das Szenario „the networked university” in Ehlers und Kellermann, 2019) und gehen im Digitalen auf, sodass das Lernszenario Kompetenzen fördert, die in einschlägigen Modellen für Medienkompetenz geschildert esind; nicht nur indem sie Thema des Seminars sind, sondern insbesondere dadurch, dass sie dem hochschulübergreifenden Format inhärent sind und so die Seminarteilnehmer*innen auf ihre berufliche Zukunft in einer zunehmend vernetzten Welt vorbereitet.
3. Merkmale des Seminars
Bei der Entwicklung des Seminarkonzepts standen sechs Merkmale im Fokus, die den konzeptionellen und organisatorischen Rahmen der Lehrveranstaltung darstellen:
- Kooperation
- Kollaboration
- Vernetzung
- digitales Format
- Modularität
- Lokalität
Die Umsetzung der 4K wird vor allem durch die Merkmale (1)-(3) gewährleistet.
Zu (1): Kooperation ist für L2D2 konstitutiv: Sowohl auf der Makroebene der Seminarkonzeption als auch auf der Mikroebene der Seminar- und Sitzungsvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung arbeiten die Dozierenden eng zusammen und profitieren von dem multiperspektivischen Blick auf didaktische, pädagogische und methodische Fragestellungen. Die Sitzungskonzepte werden zwar immer von einem Standort verantwortet, in Vorbereitung auf die Durchführung der Sitzung findet jedoch ein internes Peer-Feedback statt. Ebenso wird nach Abschluss jeder einzelnen Sitzung das Feedback der Studierenden an den/die Verantwortliche*n zurückgespielt. Diese informelle Rückmeldung ermöglicht bereits bei der ersten Durchführung der Lehrveranstaltung, Herausforderungen und Potenziale zu erkennen, die bei anschließenden Planungen berücksichtigt werden können. Die Kooperation auf der Ebene der Lernenden findet in den einzelnen Seminarsitzungen sowohl analog als auch digital statt, bspw. im Rahmen der Bearbeitung kleinerer sitzungsinhärenter Aufgaben. Die Zusammenarbeit der Studierenden soll letztendlich in einer kollaborativen Zusammenarbeit münden.
Zu (2): Die Projektphase bildet den Anlass für die studentische Kollaboration: Die Frage- und Problemstellungen der einzelnen Sitzungen werden auf diese Weise über die fachlichen Grenzen hinaus diskutiert und die Studierenden haben die Möglichkeit, sowohl die eigenen Wissens- und Methodenkenntnisse einzubringen als auch Einblick in neue Perspektiven zu erhalten.
Zu (3): Vernetzung findet bei L2D2 auf vielen Ebenen statt. Zum einen sind Lernende und Lehrende während der Sitzungen phasenweise live vernetzt. Zum anderen ist die Vorbereitung geprägt von synchroner und asynchroner Vernetzung sowie Kommunikation zwischen den Dozierenden. Mehr noch zeigt sich die Vernetzung in Inhalt, Methode und Produkt: Als Lerngegenstand „Vernetzung lernen”, als Methode „vernetztes Lernen”—und bestenfalls ist auch das „digitale Produkt”, welches die Studierenden erstellen, ein Ergebnis der On- und Offline-Vernetzung mit anderen Studierenden.
Zu (4): Die Umsetzung der Merkmale (1)-(3) erfordert ein digitales Format, das es ermöglicht, die vernetzte Struktur von L2D2 synchron in den Lehrveranstaltungen an den verschiedenen Standorten umzusetzen. Die Kommunikation muss daher in erster Linie digital stattfinden. Gleichzeitig müssen Informationen zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung unter allen Teilgebenden – also Studierenden und Dozierenden – ausgetauscht und weitergegeben werden können. Daher eignen sich digitale Artefakte, die leicht zu vervielfältigen sind, besonders als Inhalte des Seminars. Die Studierenden müssen ihre Projektergebnisse in digitaler Form abgeben, um sie allen Kommiliton*innen an allen Standorten zur Verfügung zu stellen. Weiterhin erlaubt das digitale Format eine Öffnung des Seminars für weitere Akteure im Bereich der digitalen Bildung. So können Lehrkräfte auf Twitter in Diskussionen durch die Verwendung der Hashtags #twitterlehrerzimmer und #twlz einbezogen werden und Materialien lassen sich unkompliziert als OER teilen. Folglich trägt das digitale Format des Seminars unmittelbar zu dessen Transparenz bei.
Zu (5): Modularität im Kontext von L2D2 bedeutet, dass sich das Seminar zwar mit der übergeordneten Frage auseinandersetzt, wie Lehren und Lernen sich geprägt von Digitalität verändern, die einzelnen Sitzungen folgen jedoch wiederum eigenen spezifischen Fragestellungen. Auf diese Weise sind die Sitzungen in ihrer Konzeption als in sich geschlossen angelegt und können als Bausteine für weitere Lehrveranstaltungen eingesetzt werden.
Zu (6): Die Konzeption von L2D2 ist nicht nur standortübergreifend, sondern auch standortspezifisch geprägt: Hinter dem Merkmal der Lokalität verbirgt sich die Idee, dass neben der interdisziplinären und universitätsübergreifenden Arbeit auch individuelle, standortbezogene Forschungs- und Lehrexpertisen einbezogen werden, von denen die anderen Standorte profitieren können. Dies führt einerseits zu einer größeren Vielfalt der zu behandelnden Themen und ermöglicht andererseits, innerhalb jeder Sitzung interdisziplinäre Themen aus fachspezifischer Perspektive und abgestimmt auf die jeweilige Lerngruppe vor Ort zu betrachten. So wechseln sich in L2D2 Phasen intensiver Vernetzung, Kooperation und Kollaboration mit Phasen standortinterner Zusammenarbeit ab.
Über die lehrbezogene Kooperation hinaus, mündet diese schließlich auch in wissenschaftlicher, forschungsorientierter Zusammenarbeit, u.a. in Form gemeinsamer Publikationen und Vorträge. Mit Blick auf eine Fortführung des Seminarkonzepts mit neuen Partner*innen liefert die vernetzte Gestaltung der einzelnen Seminarsitzungen und das daraus resultierende Feedback zudem wichtige Impulse und Ansatzpunkte für die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses Seminars (siehe Kap. 6) und liefern gleichzeitig Hinweise für Lehrende, die ähnliche Konzepte in anderen Fächern und Disziplinen etablieren wollen.
Der Austausch fand nicht nur zwischen den verschiedenen Seminargruppen unserer Hochschulen, sondern auch mit interessierten Personen außerhalb der eigenen Uni-Community statt.
4. Zugrundeliegende Kompetenzmodelle
Für die Konzeption der Lehrveranstaltung als Ganzes und die Sitzungen im Einzelnen wurden verschiedene Kompetenzmodelle für Medienkompetenz oder „digitale Kompetenz” herangezogen. Da das Seminar L2D2 nicht nur digital stattfindet, sondern zusätzlich genau solche Themen als Gegenstand behandelt, findet eine Förderung entsprechender Kompetenzen auf zwei Ebenen statt, also nach dem Prinzip des „pädagogischen” oder „didaktischen Doppeldeckers” (vgl. Wahl, 2013, S. 64f.): Zum einen als Lerngegenstand des Seminars (siehe Kap. 5), zum anderen als integraler Bestandteil des Seminars, dessen Lernziele den Studierenden klar kommuniziert werden. An dieser Stelle soll auf zwei Modelle eingegangen werden, die im Hinblick auf die Gestaltung von L2D2 relevant sind: Das 4K-Modell des Lehrens und Lernens (P21, 2019) und der europäische Rahmen für digitale Kompetenz DigCompEdu (Europäische Kommission, 2016).
Das 4K-Modell beschreibt vier zentrale Kompetenzen, die Lernende erwerben sollen: Kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität. Alle diese Aspekte sind Teil von L2D2: Die Inhalte werden von unterschiedlichen Seiten betrachtet, diskutiert und bewertet. Diese kritische Auseinandersetzung mit Lehrinhalten ist insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Medien oder mediengestützten Bildungskontexten relevant.
Das zweite Modell, der Kompetenzrahmen DigCompEdu beschreibt diese (und weitere) Kompetenzen detaillierter und wurde von den Lehrenden daher für die jeweilige Formulierung von Lernzielen für einzelne Sitzungen herangezogen. Eine vollumfängliche Abbildung solcher Medienkompetenzmodelle innerhalb einer Lehrveranstaltung scheint kaum möglich. Daher gibt es Ansätze, digitale Kompetenzen bei Studierenden modular zu fördern (vgl. Lohner et al., 2019). Hierbei bildet ein Seminar wie L2D2 einen Baustein innerhalb eines Curriculums, das eine umfassende Förderung ermöglicht.
Allerdings weist der Kompetenzrahmen DigCompEdu einige Schwächen auf, die auch beim Modell der Kultusministerkonferenz (KMK, 2016), das die Kompetenzen für Schüler*innen definiert, zu finden sind: So arbeitet Macgilchrist (2019) anhand des KMK-Kompetenzrahmens heraus, dass „Digitale Technologien […] zu Werkzeugen reduziert und zum Selbstzweck eingesetzt [werden]”. Sie kritisiert, dass die gesellschaftliche Dimension des Kulturwandels (u.a. Aufmerksamkeitsökonomie, algorithmische Bias, Ausschlussmechanismen, auf Nutzerdaten basierende Geschäftsmodelle etc.) durch den primären Fokus auf individuelle Kompetenzen, die als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe definiert werden, nicht hinreichend erfasst werden könne. Mit diesem Ansatz würden die sozialen, ökonomischen und technischen Strukturen, die Teilhabe ermöglichen (oder einschränken) schlichtweg ausgeblendet. (ebd., S. 19-20)
Das Seminarkonzept von L2D2 setzt daher darauf, insbesondere den Paradigmen- und Leitmedienwechsel vom Analogen zum Digitalen zu thematisieren. Im Vordergrund steht, dass die Studierenden die Kompetenz erwerben, sich auf einer Meta-Ebene mit dem Einsatz digitaler Medien in Bildungskontexten auseinanderzusetzen und dabei viel weiter blicken als in den neuen technologischen Möglichkeiten nur neue Werkzeuge zu sehen, mit denen sie alte Ziele schneller oder effizienter erreichen können.
5. Themen des Seminars
Das Seminar L2D2 trägt den Untertitel „Lehren und Lernen unter den Bedingungen von Digitalisierung und Digitalität”, der anzeigt, dass unterschiedliche Perspektiven auf Bildungskontexte thematisiert werden sollen. Der Seminarplan im Wintersemester 2019/20 folgt einer Linie vom Generellen ins Spezielle: Zu Beginn werden grundlegende Konzepte vorgestellt, wie Lehr- und Lernszenarien funktionieren und welche Veränderungen durch eine zunehmende Computerisierung und Mediatisierung der gesellschaftlichen Strukturen eintreten (können) (vgl. Rosa, 2017, 2018). Der Transformationsprozess von einer Buchdruck- in eine Computergesellschaft betrifft Bildungskontexte in besonderer Weise, da diese sich durch ein komplexes Zusammenspiel von Information und (sozialer) Interaktion auszeichnen. Beide Aspekte unterliegen durch die Digitalisierung enormen Veränderungen: Informationen liegen in digitaler Form vor und sind somit zeitlich und räumlich nahezu unbegrenzt flexibel abruf- und einsetzbar; Interaktionen können (zumindest in Teilen) virtualisiert werden und sind nicht mehr nur an zeitliche und räumliche Nähe gebunden. Weiter werden im Seminar unterschiedliche Kompetenzmodelle für digitale Kompetenz bzw. Medienkompetenz behandelt, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten beleuchtet und erörtert, wie die Modelle jeweils in der pädagogischen Praxis angewendet werden können; darunter das Dagstuhl-Dreieck (Gesellschaft für Informatik e.V., 2016), der Kompetenzrahmen DigiCompEdu (Redecker & Punie 2017) Modelle zur medienpädagogischen Kompetenz (Blömecke 2000; Tulodziecki 2012; Grafe und Breiter 2014) und das Strategiepapier „Bildung in einer digitalen Welt” der Kultusministerkonferenz (KMK, 2016).
In einer weiteren Sitzung sammeln und analysieren die Studierenden zahlreiche Argumente für und wider den Einsatz digitaler Medien in der Schule oder konkrete Methoden digital gestützter Bildungskontexte wie den Einsatz von Erklärvideos und diskutieren diese. Gerade durch die Zusammensetzung der Gesamtgruppe aller Standorte ergeben sich hierbei Einblicke in die Perspektiven unterschiedlicher Fächer und Disziplinen. Auch eine Einführung in grundlegende Kenntnisse der Informationstechnologien werden mit Hilfe eines Selbstlernmoduls über Algorithmen vermittelt. Der Transfer der online erarbeiteten Inhalte in die Lebenswelt der Studierenden erfolgt in den Präsenzphasen.
Für alle Sitzungen sind Lernziele formuliert, die auf unterschiedlichen Stufen der Lernzieltaxonomien nach Bloom (1973) angesiedelt sind. Insgesamt soll den Studierenden gezeigt werden, wie vielschichtig der Einsatz digitaler Medien für Bildungszwecke sein kann, welche Faktoren dabei zu beachten sind und wie sich Lehr-Lernprozesse unter den Bedingungen der Digitalisierung und Digitalität grundlegend verändern (müssen). Da die Zielgruppe hauptsächlich Studierende des Lehramts sind, haben die Themen besondere Relevanz, sofern sie unmittelbar auf Unterrichtssituationen anwendbar sind, die Studierenden beispielsweise im Schulpraktikum bzw. insbesondere im späteren Berufsleben begegnen können und werden.
6. Erfahrungen aus der Durchführung
Die Evaluation des Seminars durch die Studierenden zeigt, dass sowohl die Inhalte als auch das Format von L2D2 insgesamt positiv aufgenommen wurden. Der standardisierte Evaluationsbogen für Lehrveranstaltungen, den das KIT im Wintersemester 2019/20 für alle Standorte bereitgestellt hat, liefert nur bedingt relevante Daten: Die Anzahl der Studierenden variiert von Standort zu Standort zu stark, als dass sich die Ergebnisse der durchführenden Universitäten untereinander sinnvoll vergleichen lassen. Das individuelle Feedback der Studierenden hingegen gibt deutlichen Aufschluss über die Stärken und Schwächen des Konzepts und zeigt die Stellen auf, an denen für die kommenden Semester nachgebessert wird.
6.1 Kritikpunkte am Seminarkonzept
Der größte Kritikpunkt, der von den Studierenden hervorgebracht wurde, betrifft den Umfang der genutzten Tools für die technische Umsetzung des Seminars. Die Zahl der verwendeten digitalen Tools sei zu hoch gewesen – und zusätzlich für einen Großteil der Studierenden neu, sodass sie sich erst in neue Software einarbeiten mussten. Zusätzlich zum jeweils hochschuleigenen Learning Management System kamen in L2D2 folgende Tools zum Einsatz: Twitter für einen öffentlichen Austausch; Adobe Connect für synchrone Kommunikation; Slack für Koordination der Gruppenarbeiten, GoogleDocs für die kollaborative Erstellung von Dokumenten; Padlet zum Sammeln von kleinen Beiträgen in Diskussionen. Dazu kamen noch spezielle Tools für einzelne Sitzungen, bspw. zur Analyse von Erklärvideos. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die konkrete Ausgestaltung des Inverted Classrooms, wie er in L2D2 meist praktiziert wurde. Zwar wurden die Inhalte, die für eine Präsenzsitzung vorbereitet werden sollten, rechtzeitig und detailliert genannt, hatten im Einzelfall aber nicht immer ausreichend Bezug zur zentralen Fragestellung und Diskussion der jeweiligen Sitzung. Ebenso fehlte die Konkretisierung des roten Fadens, der die einzelnen Themen untereinander in Verbindung setzt.
6.2 Positive Rückmeldungen
Positiv wurde von den Studierenden rückgemeldet, dass das Thema des Seminars von großem Interesse ist und offenkundig für die jeweilige pädagogische Praxis in der zukünftigen Laufbahn große Relevanz hat. Insbesondere die breite Fächerung der Themen wurde begrüßt; in Kombination mit dem vielfältigen Austausch über die Themen wurde hier das größte Potenzial des Konzepts von L2D2 aus Studierendensicht identifiziert. Die Projektphase in der zweiten Hälfte des Semesters wurde ebenfalls als nützlich empfunden, da die Studierenden hier eigene Projekte gestalten und durchführen konnten. Auf diese Weise können sie ihr jeweiliges (Fach-)Wissen spezifisch und individuell vertiefen und erweitern. L2D2 wurde als Ganzes positiv bewertet, da es durch die Themenauswahl weit über fachspezifische Inhalte hinausgeht und eine Perspektive aufzeigt, wie Bildungskontexte digital gestaltet werden können.
Es hat sich gelohnt! Das Setting, das Thema des Seminars und vor allem der Austausch mit den anderen Dozierenden und Studierenden war absolut inspirierend.
6.3 Lessons Learned
Insgesamt kann aus den Erfahrungen, die im Wintersemester 2019/20 mit dem universitätsübergreifenden, virtuell vernetzten Lehrexperiment „L2D2 – Lehren und Lernen unter den Bedingungen von Digitalisierung und Digitalität” gemacht wurden, abgeleitet werden, dass eine solche Lehrveranstaltung erfolgreich durchgeführt werden kann. Wichtig ist dabei, dass die technische Umsetzung für Lehrende und insbesondere die Studierenden nicht überfordernd ist und zielgerichtet erfolgt. Zu vermuten ist jedoch auch, dass mit zunehmender Erfahrung die Technik „unsichtbar” und mit größerer Selbstverständlichkeit eingesetzt werden wird, als dies bei der ersten Durchführung des Seminars mit eher unerfahrenen Studierenden der Fall war.
Für L2D2 bietet sich speziell die Möglichkeit, durch die öffentliche Vernetzung über Twitter auch externe Impulse einzuholen und seminarinterne Diskussionen in der digitalen Öffentlichkeit weiterzuführen. Eine enge Kooperation der Dozierenden untereinander ist dabei genauso wichtig wie eine detaillierte Planung der Inhalte, die zwar modular zusammengesetzt werden und auf den Lehr- und Forschungsexpertisen der beteiligten Dozierenden basieren können, aber dennoch so aufeinander abgestimmt sein sollten, dass sich für die Lehrveranstaltung ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Es empfiehlt sich – und ist für zukünftige Durchführungen von L2D2 geplant – sowohl die technischen Anforderungen als auch eine Übersicht über alle Inhalte und Themen des Seminars in einem Advance Organizer (vgl. Ausubel, 1960) transparent zu kommunizieren. Zudem können ganz im Sinne der Kultur der Digitalität Kontakte zu den Autor*innen der jeweils bearbeiteten Texte hergestellt werden und ein direkter Austausch zwischen ihnen und den Studierenden stattfinden.
Insgesamt können unterschiedliche Schwerpunkte einzelner Standorte als Vorteil für die Gesamtgruppe ausgespielt werden, sodass ein universtitätsübergreifendes Seminar wie z.B. L2D2 von der Synergie der vielfältigen Perspektiven profitieren kann.
Fußnoten
[1] Vier Standorte organisieren das Seminar, an einem der vier Standorte kommt aufgrund zu geringer Anmeldung von Studierenden keine Lehrveranstaltung zustande. Darüber hinaus unterstützte die FernUniversität in Hagen das Seminar L2D2 und konzipierte die Sitzung „Bildung im Zeitalter der Digitalität: Begriffe, Theorien und Philosophie”.
[2] Zur Unterscheidung von Kooperation und Kollaboration siehe Schmalz, 2007.
Literatur
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Blömeke, S. (2000). Medienpädagogische Kompetenz. Theoretische und empirische Fundierung eines zentralen Elements der Lehrerausbildung. München: KoPäd-Verlag.
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