Kann KI die Hochschulbildung revolutionieren? Ein Interview mit Claudia de Witt

Kann KI die Hochschulbildung revolutionieren? Ein Interview mit Claudia de Witt

18.01.21

Bild: "Data has a better Idea"

Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung weckt große Erwartungen an eine verbesserte Qualität des Lehrens und Lernens. Als Professorin für Bildungstheorie und Medienpädagogik an der FernUniversität in Hagen erforscht Claudia de Witt Methoden und Anwendungen von KI in Studium, Lehre und Weiterbildung. Im Gespräch mit Prof. de Witt erfragt Lavinia Ionica, Programmmanagerin beim Stifterverband, welche Disruptoren in der Hochschulbildung aus bildungswissenschaftlicher Perspektive zu erwarten sind und welche Rolle Künstliche Intelligenz hier spielen kann.

 

Lavinia Ionica: Guten Tag Frau de Witt! Sie forschen seit einigen Jahren zu Künstlicher Intelligenz in der Bildung. Was fasziniert Sie an diesem Feld?

Prof. Dr. Claudia De Witt: Ja, seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit der Bedeutung digitaler Medien für Bildungsprozesse, mit der Digitalisierung von Lehren und Lernen und so eben auch mit der Mensch-Computer-Interaktion aus einer bildungswissenschaftlichen und medienpädagogischen Perspektive. Was mich daran fasziniert, sind die innovativen Potentiale, die mit Technologien, mit Künstlicher Intelligenz verbunden sind und mit denen wir die Zukunft des Lernens und der Bildung so gestalten können, wie wir sie uns vorstellen. An der FernUniversität in Hagen habe ich dafür ein hervorragendes Umfeld gefunden, wo ich bildungstheoretische Anforderungen mit bildungs-technologischen Lösungen koppeln und mich mit Forschung und Entwicklung für eine zeitgemäße digitalisierte Hochschulbildung einbringen kann. Besonders an der Künstlichen Intelligenz fasziniert mich, dass diese Technologie das Potential zu einer Art persönlichen Assistenz – beim Lernen und Lehren – hat und uns helfen kann, unsere kognitiven und metakognitive Fähigkeiten, also unser Denken, unser Problemlösen und unsere Entscheidungsfindungen, besser zu verstehen.

 

Es wird oftmals gesagt, dass KI zur Lösung von verschiedenen Herausforderungen in der Hochschulbildung beitragen kann. Wo sehen Sie die größten Potentiale?

Seit der Dartmouth Conference 1956 wird ja Künstliche Intelligenz als wissenschaftliches Fachgebiet geführt, das sich mit Maschinen, Robotern und Software-Systemen beschäftigt, die komplexe Aufgaben selbstständig erledigen, für die menschliche Intelligenz vorausgesetzt wird. Und diese Fähigkeiten lassen sich m. E. für die Hochschulbildung nutzbar machen. So können wissensbasierte Systeme in Kombination mit Verfahren maschinellen Lernens angewandt werden, um sowohl den Wissenserwerb als auch die Kompetenzentwicklung von Studierenden zu fördern. Künstliche Intelligenz kann offene Fragen in Echtzeit bewerten und ist Grundlage für ein intelligentes automatisiertes Assessment; auch lassen sich mit einer automatisierten Bewertung die einzelnen Beiträge von Studierenden beurteilen, das man als Automated Essay Scoring bezeichnet. Chatbots beantworten administrative Fragen von Mitarbeitenden und Studierenden im laufenden Betrieb. Educational Data Mining-Modelle erkennen den Lernfortschritt, die Motivation und die metakognitiven Zustände von Lernenden über einen längeren Zeitraum und ermöglichen automatische Reaktionen in Form von KI-Stimmungsanalysen oder -Vorhersagesystemen.

Mit Künstlicher Intelligenz könnten beispielsweise Studiengänge und -module nach den Maßgaben personalisierten Lernens und personalisierter Kompetenzentwicklung aufgebaut werden. Auch die Lehrenden können durch eine Art „KI-Teaching-Assistant“ begleitet werden, der ihnen bei der Qualitätsentwicklung ihrer Lehre hilft.

Zeitgemäß sind adaptive, personalisierte Lernformate, die speziell die Diversität der Studierenden mit ihren Stärken und Schwächen sowie deren Selbstregulation und Selbstwirksamkeit im Studium unterstützen und sich dementsprechend flexibel und „intelligent“ deren individuellen Lernbedürfnissen anpassen. KI-unterstützte Lernplattformen und intelligente Assistenzsysteme in Form von Recommendern bzw. (Sprach-) Bots können die spezifischen Bedarfe der Studierenden erfassen, sich auf deren Lernziele, -strategien, -organisation und -fortschritte fokussieren und mit Vorschlägen den weiteren Lernprozess in allen Studienphasen individuell unterstützen. Neben wissensbasierten Expertensysteme, maschinellem Lernen und Learning Analytics kommen Academic Analytics bzw. Educational Data Mining zum Einsatz. Sinnvoll sind hybride KI-Systeme, weil sie beispielsweise die Vorteile des Maschinellen Lernens mit Domänenmodellierungen und Expertenwissen kombinieren und Prinzipien wie Erklärbarkeit, Vorhersagbarkeit und Nachvollziehbarkeit enthalten.

 

Um in der Hochschulbildung Künstliche-Intelligenz-Systeme erfolgreich einzusetzen, müssen mehrere Kriterien erfüllt werden. Eins davon sind verlässliche Daten. Wie und wo entstehen an Hochschulen Daten? In welcher Qualität?

Daten an Hochschulen entstehen spätestens mit der Einschreibung. Es folgen Eingangsbefragungen, Zufriedenheitsbefragungen, Evaluationen von Veranstaltungen und Kursmaterialien, es liegen Prüfungsdaten vor. Mit dem sog. ECTS-Monitoring lassen sich Studienaktivitäten und -fortschritte durch die Ermittlung von Ist- und Soll-ECTS-Punkten messen und Studienverläufe nachzeichnen. In den Lernumgebungen werden durch die Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden ebenfalls Daten erzeugt. Für KI-Anwendungen müssen im Sinne des Datenschutzes diese Daten unbedingt pseudonymisiert oder anonymisiert werden. Die Qualität der Daten für ein intelligentes System ist dann besonders von der Verknüpfung der Daten aus den unterschiedlichen Quellen abhängig. Grundsätzlich muss man aber immer kritisch hinterfragen, wie die Daten entstanden sind und in welchen Situationen sie wieder angewendet werden.

 

Welche Art von Informationen kann ein digitaler Fußabdruck über das Studierenden-Verhalten liefern?

Studierende erzeugen durch ihre Logins in die Lernumgebungen der Hochschule, durch ihre Aktivitäten in Foren, Blogs, Quizze, durch ihre Lese- und Schreibaktivitäten Daten. Diese Daten liefern beispielsweise Informationen über ihr Lernverhalten, die Lernstrategien, mediale Präferenzen oder Kommunikationsverhalten. Für eine enge Abstimmung ihrer individuellen Lernziele, -inhalte, -tempi und -ergebnisse in Interaktion mit dem System lässt sich beispielsweise eine gefilterte Auswahl von Lerninhalten einsetzen oder eignen sich gute Feedbacksysteme z. B. für die Unterstützung der Selbsteinschätzung und -wirksamkeit („Denke einmal darüber nach, eine andere Lernstrategie anzuwenden“). Checklisten reichen für eine Personalisierung nicht mehr aus, dafür brauchen wir adaptive (Rückmelde)-Systeme, die in der Lage sind, die Bedarfe der Studierenden zu erfassen und individuelle Empfehlungen für den weiteren Lernprozess zu geben.

Dazu gehören beispielsweise dann Abbildungen und Visualisierungen des Lernfortschritts; mit Hilfe von Daten lassen sich Lernbedarfe sichtbar machen, Reportings können für Studierende erstellt und zur eigenen Bewertung erreichter Aktivitätslevels eingesetzt werden: „woran möchtest Du dich messen lassen?“ Nach einiger Zeit können Anpassungen vorgenommen werden „Deine Erwartungen sind zu hoch“. Und „Translanguaging“ (automatisches Übersetzen) hilft Studierende bei der Einschätzung ihrer Sprachfähigkeiten, ihr Wissen in eigenen Begriffen zu verstehen und auszudrücken.

Ich denke, mittelfristig werden sich unsere bisherige LMS in diese Richtung verändern. Dies erfordert ein datenorientiertes Verständnis vom lernenden Individuum. Informationen darüber, wer der/die Lernende ist, was seine/ihre Kompetenzen sind, was er/sie gerade tut und welche Ziele er/sie hat, sind nur einige der Informationen, die benötigt werden, um eine passgenaue Unterstützung zu konzipieren. Zudem erfordert der Ansatz nicht nur eine Orchestration von technischen Systemen und Technologien wie Machine Learning, Learning Analytics, Recommender-Systeme etc., sondern den Einbezug von Lernenden wie Lehrenden, die den Umgang mit Learning Analytics-Dashboards, Empfehlungssystemen und personalisierten Adaptionen erst noch erlernen müssen, um für sich einen optimalen Nutzen daraus zu generieren.

Grundsätzlich sollten nur solche Informationen gesammelt und verwendet werden, die für die Studierenden von Bedeutung sind. Und wenn Daten der Studierenden ausgewertet und verwendet werden, sollte dies transparent gemacht werden und nachvollziehbar sein, also welche Daten das KI-System verarbeitet und warum es zu bestimmten Ergebnissen kommt. Dieses Wissen ist wiederum Grundlage dafür, dass Studierende selbstbestimmt und eigenverantwortlich vorgehen können. Wir müssen Künstliche Intelligenz gewissenhaft entwickeln und einen ethisch begründeten Umgang mit KI an der Hochschule kultivieren. Dafür helfen beispielsweise klare Spezifikationen und Evaluations-Prozeduren. KI-Systeme sollten also erklärbare KI-Systeme mit nachvollziehbaren Outputs und Entscheidungen sein.

Bild: "Data has a better Idea"

 

Können Sie ein konkretes KI-bezogenes-Szenario nennen, welches jetzt schon Realität in der Hochschulbildung ist?

In dem AI.EDU Research Lab erforschen Niels Pinkwart und sein Team vom DFKI zusammen mit meinem Team vom Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik/Forschungsschwerpunkt D2L2 – Digitalisierung, Diversität und Lebenslanges Lernen an der FernUniversität in Hagen, wie Bildungserfolge nicht nur durch Abschlüsse sichtbarer werden, sondern wie Methoden der Künstlichen Intelligenz für ein personalisiertes Studium eingesetzt werden können, um die Studierenden bei ihren persönlichen Bildungszielen und ihren individuellen Lernprozessen,  ihrem individuellen Wissen- und Kompetenzerwerb, ihrer Selbstregulation zu unterstützen, aber auch, wie KI zu Verbesserung des individuellen Studienverlaufs und möglicherweise zu curricularen Veränderungen beitragen kann.

Dafür entwickeln wir ein wissensbasiertes System, das aus einem Lernenden, Didaktik- und Domänenmodell besteht. Für das Domänenmodell haben wir Ontologien aus den Studienmaterialien, die die Studierenden für ihre Studienleistung benötigen, erstellt und in Protégé umgesetzt. Gleichzeitig erstellen wir ein Automatic Assessment Tool (AAT) und Intelligent Feedback to Student Exercices (IFSE) mit Verfahren des maschinellen Lernens; Datengrundlage für das Automatic Assessment sind Altklausuren aus einigen vergangenen Semestern und einem in der Lernumgebung implementierten semesterwiederkehrenden Starterquiz. Für das IFSE wird das Domänenwissen mit dem aktuellen Übungssystem in der Lernumgebung Moodle verknüpft, so dass eine dynamische Anpassung der nächsten Übungen auf der Grundlage des Kompetenzniveaus der Studierenden und eine personalisierte Empfehlung zum weiteren Selbstlernen erfolgen. Zur Erhöhung der Qualität des Automatic Assessments und zur Erweiterung dessen Funktionalitäten sind derzeit aber noch weitere Datenerhebungen notwendig.

 Mit den beiden Verfahren, Expertensystem und Maschinelles Lernen, verknüpfen wir das Expertenwissen mit dem „Systemwissen“, um den Studierenden in einem medienpädagogischen Modul ein Empfehlungssystem zur Seite zu stellen, das ihnen ein individuelles, systemgeneriertes Feedback zu ihrem Vorwissen gibt und sie beim selbstständigen Aufarbeiten der Studienmaterialien für eine thematisch individuell ausgerichteten Prüfungsleistung unterstützt: eine Art „intelligente“ Hausarbeitsassistenz. In einem weiteren Schritt hat das AI.EDU Research Lab die Entwicklung und Erforschung eines Recommender-Systems auf der Ebene des selbstregulierten Lernens im Studienverlauf mittels Educational Data Mining vorgesehen. Parallel entwickeln wir Ethikleitlinien für das KI-basierte Fernstudium und Konzepte zur Sensibilisierung der Studierenden für die Wirkungsweisen von KI-Methoden und zur Herstellung von Transparenz.

 

KI kann Lehrende unterstützen, indem sie einen besseren Einblick in die Bedürfnisse der Studierenden gewährt. Inwieweit sehen Sie die mögliche Entwicklung, dass die KI das Lehrpersonal vollständig ersetzt?

Ich glaube nicht, dass KI das Lehrpersonal vollständig ersetzen wird. Die Technologie wird die Lehrenden sicherlich von einigen Tätigkeiten entlasten, beispielsweise von routinemäßigen Korrekturen von Klausuren oder ständig wiederkehrenden Fragen. KI-Systeme sind zwar in der Lage, auf unendlich viele Datenbanken weltweit in kurzer Zeit zuzugreifen, einschlägige Quellen und aktuelle Studien den Studierenden für ihre individuellen Studienleistungen schneller vorzuschlagen, ggfs. sogar aufbereiten zu können. Der persönliche Kontakt zur Lehrperson, die mehr weiß als das, was im Internet steht, die persönliche Betreuung, ihr kritisches Denken und ihre Erfahrungen sind m. E. aber unersetzbar. Wissen verlangt Urteilskraft und erst die Bewertung, Einordnung und Interpretation von Daten kann Wissen konstituieren. Und darin ist eine gute Lehrperson immer noch besser als eine Maschine. Außerdem bleiben Faktoren für die Motivation von Studierenden wie die Empathie einer Lehrperson unerlässlich.

Andererseits können lehrerorientierte KI-Anwendungen Lehrende dabei unterstützen, ihre eigene Lehre zu verbessern. Um diese Entwicklungen in der Lehre zu nutzen, bedarf es aber auch neuer Konzepte der Hochschuldidaktik. In diese Konzepten muss zum einen die technologische, personalisierte Unterstützung der Studierenden einfließen und zum anderen muss der Aufgabe der Lehrenden als Förderer von kritisch denkenden, selbstbestimmten und gesellschaftlich handlungsfähigen Individuen mehr Raum gegeben werden; ich denke etwa an eine Art Hybrid-Didaktik, die berücksichtigt, dass die Interaktion mit der Technologie immer natürlicher wird und die Kommunikation über unsere Sprache und unsere Gesten erfolgt.

 

Wie schätzen Sie die Entwicklungen ein:  Können wir zukünftig davon ausgehen, dass sowohl Lehrende, Mitarbeitende in Unterstützungsstrukturen und Verwaltung sowie Hochschulleitungen und Studierende kompetent mit KI-Systemen umgehen werden können?

Es ist m.E. noch ein längerer Weg, bis wir soweit sind. Hochschulleitungen, Lehrende und Studierende müssen wissen, dass wir uns auf eine starke „Mathematisierung“ des Hochschulwesens zubewegen. KI in der Hochschulbildung bedeutet, mit einer Datafizierung von Lehre, Studium und Forschung, die Vorhersagbarkeits-, Berechenbarkeits- und Kontrolloperationen beinhaltet, konfrontiert zu sein. Alle Akteure in der Hochschule müssen sich mit den Disruptionen, die damit einhergehen, beschäftigen und offen für die Möglichkeiten bzw. sich der Grenzen von KI in der Hochschulbildung bewusst sein. Dafür sind Kompetenzen über, mit und trotz KI notwendig, wie wir es in dem Whitepaper KI in der Hochschulbildung beschrieben haben.

 

 Wie könnte die Kompetenzerweiterung in der Hochschulbildung vorangetrieben werden?

Ein gutes Beispiel zur Kompetenzerweiterung in der Hochschulbildung sind die Plattformen Elements of AI und der KI-Campus mit ihren offenen Bildungsangeboten zum Erwerb von Kompetenzen über KI. Auch scheint es mir, dass an vielen Hochschulen neue Studiengänge und auch kleinere Bildungsangebote zu KI entstehen. Denn es besteht jetzt doch immer mehr die Einsicht, sich über Künstliche Intelligenz, Big Data, Maschinelles Lernen usw. schlau machen zu müssen, da wir nicht nur in der Hochschule, sondern auch im beruflichen Kontext  und vor allem auch in unserem Alltag von KI begleitet werden, die Technologie „immer näher an uns heranrückt“ und wir auch häufiger von „augmentierter Intelligenz“ und „augmentiertem Lernen“ sprechen.

An den Hochschulen könnten Studierende beispielsweise über forschungsbasiertes Lernen („Inquiry-Learning“) die Möglichkeiten von KI kennenlernen, sich an praktischen Herausforderungen üben und innovative Lösungen entwickeln, also Grundlagen und Werkzeuge kennenlernen, um dann in Praxisphasen eigene KI-Projekte umzusetzen. Auch sollte die Kompetenzentwicklung in die Curricula der grundständigen Studiengänge integriert werden. Dieser Aspekt sollte bei zukünftigen Akkreditierungen eine Rolle spielen. Es wird im Moment zwar schon viel über die Notwendigkeit der Vermittlung von digitalen Kompetenzen geredet, aber diese noch nicht im notwendigen Umfang und Tempo umgesetzt.

Eine gekürzte Fassung dieses Interviews finden Sie hier auf dem Blog des KI-Campus.

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