„Innovativ und kreativ zu denken ist heute das Entscheidende“ – Interview mit Andreas Schleicher (OECD)
„Innovativ und kreativ zu denken ist heute das Entscheidende“ – Interview mit Andreas Schleicher (OECD)
15.11.17Wir haben mit Prof. Dr. Andreas Schleicher, Direktor für Bildung und Kompetenzen der OECD ein Interview über Future Skills, das deutsche Bildungssystem und die Chancen der digitalen Transformation geführt. Das Interview fand im Rahmen der Veranstaltung „Future Skills – Zukunftsbildung für das 21. Jahrhundert“ statt.
HFD: Welche Future Skills müssen Studierenden vermittelt werden?
Andreas Schleicher: Innovativ und kreativ zu denken, ist heute das Entscheidende. Neue Lösungen finden, auch über die Fächergrenzen hinweg kreativ denken, komplexe Probleme lösen und sehen, dass andere Menschen anders denken – interkulturelle Kompetenz wird von größerer Bedeutung sein. Ich glaube darüber hinaus, Menschen müssen in der Lage sein, disziplinäres Fachwissen auch auf andere Bereiche zu übertragen.
Wie können Future Skills gemessen werden?
Das ist immer eine große Herausforderung. Als wir mit der PISA-Studie anfingen, hätten wir uns nicht träumen lassen, jemals gemeinsames Problemlösen zu testen. Dies ist heute aber durch digitale Testinstrumente möglich, mit denen wir Schüler miteinander vernetzen können und sehen, wie verschiedene Schüler zu einer gemeinsamen Lösung beitragen. Genau diese Kompetenzen sind es, die in der heutigen Gesellschaft an Wert zunehmen. Das, was man leicht unterrichten kann, das was man leicht testen kann, lässt sich auch leicht digitalisieren, automatisieren und outsourcen. Im Grunde geht es darum, diese Kompetenzen sichtbar und messbar zu machen. Genau daran arbeitet PISA.
Wie muss sich Schulbildung verändern?
Ich denke, das Bildungssystem muss sich insgesamt sehr stark verändern. Die Frage der Kompetenzen steht natürlich im Vordergrund, aber wie wir diese Kompetenzen fördern und entwickeln, hat sehr viel mit der Arbeitsorganisation zu tun. Welchen Freiraum haben Lehrkräfte, um neue Unterrichtskonzepte zu entwickeln, zu testen und gemeinsam mit Kollegen an der Entwicklung von neuen Ideen zu arbeiten? Daraus ergibt sich eine ganz andere Arbeitsorganisation. In Deutschland werden Lehrer zurzeit relativ gut bezahlt, haben aber eher wenig Freiraum, um andere Dinge zu machen als Wissen zu vermitteln. Der Unterricht steht im Vordergrund. Schauen Sie nach Shanghai in China – dort unterrichten Lehrkräfte zwischen 11 und 16 Stunden pro Woche. Ihnen bleiben also sehr viel mehr Freiraum und Zeit, um gemeinsam mit Kollegen neue Unterrichtskonzepte zu entwickeln, um Hospitationen vorzunehmen, Dinge zu analysieren, mit Eltern und Schülern zu arbeiten. Der Lehrer als Lernender – das ist entscheidend für die Umsetzung von Zukunftskompetenzen. Es ist nicht damit getan, von oben immer zusätzliche Dinge auf unser Bildungssystem zu verlagern. Es geht vielmehr darum, wie wir den Menschen, die dort arbeiten, ein Arbeitsumfeld und Karriereperspektiven bieten, um wirklich innovativ und kreativ arbeiten zu können. 72 % der Lehrkräfte empfinden heute ihre Arbeitsumgebung als innovationsfeindlich. Das heißt, ich mache Dinge anders oder origineller und daraus ergibt sich mir eher ein Nachteil als ein Vorteil. Diese Wahrnehmung muss nicht unbedingt der Realität entsprechen. Aber es zeigt, dass wir nichts verändern können ohne auch diese Wahrnehmung zu ändern.
Welche Chancen ergeben sich aus der digitalen Transformation für das Hochschulbildungssystem?
Die digitale Transformation schafft ein enormes Umfeld, um Bildung wirklich neu zu denken und weiterzuentwickeln. Worauf bauen Hochschulen heute auf? Sie verknüpfen drei Dinge: sie bieten Bildungsinhalte an, sie vermitteln diese Bildungsinhalte und sie haben die Akkreditierungssysteme, mit denen wir Bildungsergebnisse anerkennen – die Hochschulabschlüsse. Die digitale Welt hat das alles entkoppelt. Inhalte sind heute überall verfügbar. Der Einzelne kann heute entscheiden wo, wann, wie und was er lernt – als Lernender sind Sie der König. Die Universität ist nur einer der Bildungsanbieter. Akkreditierung ist hierbei der Knackpunkt. In dem Moment, in dem die Akkreditierungssysteme von den Gebäuden der Universitäten abgekoppelt werden, wird sich die Bildungslandschaft radikal verändern. Das ist das Potenzial der Digitalisierung: Das Lernen steht im Vordergrund und nicht die Institution.
Welche Weichen müssen von der neuen Bundesregierung gestellt werden?
Ich glaube, wir müssen bessere Augen und Ohren entwickeln, um zu sehen, wie sich die Welt verändert – und damit die Nachfrage nach Kompetenzen und Fähigkeiten. Das Entscheidende ist, dass wir junge Menschen nicht für unsere Vergangenheit bilden, sondern für ihre eigene Zukunft. Dazu müssen wir diese Zukunft sehr viel deutlicher sehen. Es geht darum, Unterstützungssysteme zu schaffen, die Innovation im Bildungsbereich belohnt, stärkt, unterstützt und skaliert. Die Politik kann viel tun, um in den Schulen ein innovationsfreundlicheres Arbeitsklima zu schaffen. Ressourcen sollten dort eingesetzt werden, wo sie am meisten Wirkung entfalten, anstatt nach dem Gießkannenprinzip überall ein bisschen zu verteilen. Man sollte genau überlegen, wie die besten Lehrkräfte für die schwierigsten Schüler und die schwierigsten Klassen gefunden werden können. Ich glaube, das ist entscheidend und eine politische Gestaltungsaufgabe.
Wo stehen deutsche Hochschulen im internationalen Vergleich?
Das ist sehr schwer zu sagen. Es fehlen uns im Grunde die Daten und das sagt an sich schon viel aus. Ich kann Ihnen Folgendes sagen: Wir geben heute etwa 15-mal so viel für medizinische Innovation und Forschung aus als für Forschung im Bildungsbereich. Das bedeutet, wir gehen immer noch davon aus, dass wir das Wissen haben, das wir brauchen und wir demnach nicht in die nächste Bildung investieren müssen. Wenn wir auch langfristig noch erfolgreich sein wollen, dann müssen wir daran arbeiten.
Deutschland baut heute im Grunde auf den 50er Jahren auf. Die Stärke der Wirtschaft in Deutschland heute ist das Ergebnis von dem, was wir in den 50er, 60er und 70er Jahren geleistet haben. Die Grundschulkinder von heute werden die Erwerbstätigen im Jahr 2030 sein und über diese Zukunft entscheiden wir jetzt. Was heute im Kindergarten und in der Grundschule passiert, bestimmt, wo Deutschland im Jahr 2030 stehen wird. Die Schere zwischen den führenden Bildungsnationen und Ländern wie Deutschland wird in Zukunft weiter auseinander gehen. Länder wie Singapur, wie China haben einen dramatischen Aus- und Umbau ihrer Bildungssysteme vorangetrieben. China baut jede Woche eine neue Universität und investiert enorm in die qualitative Verbesserung der Bildungsleistung. In China geben Eltern und die Gesellschaft für die Gestaltung der Zukunft – also für die Bildung der Kinder – ihre letzten Mittel aus. In Deutschland und Europa hingegen haben wir das Geld unserer Kinder für unseren heutigen Konsum bereits ausgegeben, das ist die Verschuldung, vor der wir heute stehen. Dies sind die Paradigmenwechsel. Wenn wir uns nicht ändern, vergeben wir das Potential der Zukunft. Digitalisierung schafft enorme Herausforderungen und wir sehen vor allem die Risiken, dass Jobs verloren gehen könnten. Wir müssen jedoch auch die Chancen betonen und ich glaube, dass Digitalisierung uns eine enorme Chance bietet. Digitalisierung ermöglicht es uns Menschen, tatsächlich Mensch zu sein, indem wir die Fähigkeiten und Kompetenzen nutzen, die uns von Technologie unterscheiden. Aber dafür müssen wir sie auch entwickeln.