Hanni & Manni und das surfende Klassenzimmer

Hanni & Manni und das surfende Klassenzimmer

27.10.16

Digitale Verdummung oder digitale Revolution? Die Ankündigung von Bildungsministerin Johanna Wanka, alle Schulen in Deutschland mit mehr Computern und WLAN auszustatten, hat die deutsche Bildungslandschaft in Aufruhr versetzt. Doch was steckt eigentlich wirklich hinter dem Digitalpaket und ist es die ganze Aufregung wert? Ein Klärungsversuch von Patrick Breitenbach – zuerst erschienen im Merton Magazin des Stifterverbandes.

Okay, okay. Ich gebe es offen zu: Auch meine Amygdala sprang erregt im Achteck, als ich so manchen Kommentar zum geplanten Digitalpaket#D, ein fünf Milliarden schweres bildungspolitisches Vorhaben, vorgestellt durch Bildungsministerin Johanna Wanka, um die Infrastruktur Internet in allen deutschen Schulen zu ermöglichen, gelesen habe. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, wurde zum Beispiel ziemlich schnell in den sozialen Netzwerken zum Epizentrum der Digitalophobie

Und auch Deutschlands Digitalverteufler Nummer eins, Manfred Spitzer, sah sich mal wieder dazu berufen, digitalfeindliche Tiraden zum Besten zu geben, deren Essenz sich wie folgt darstellt: WLAN in den Klassenzimmern führt automatisch zu einer Verdummung der Schüler und mündet daher zwangsläufig in eine Bildungskatastrophe. Untermalt wird das Ganze mit einer für ihn typischen Metapher: „Ich schlage doch in der Medizin auch nicht eine Operationsmethode vor, bei der bislang alle gestorben sind.“ Ja, da freut sich die Amygdala. So viele emotionale Erregungsimpulse in nur so wenigen Sätzen verpackt. Chapeau!

Wer in den letzten Tagen das Video von Panorama über die Mechanismen des Populismus gesehen hat, könnte sich womöglich zu der Annahme hinreißen lassen, dass es sich bei Manfred Spitzer vielleicht um eine Art digitalen Trump handeln könnte. Schließlich malt er uns glasklare Feindbilder auf, spricht von großen Schreckensszenarien und bietet der durch ihn schockierten Gesellschaft die goldene Lösung an: eine digitale Prohibition – und das, obwohl er selbst wie selbstverständlich das Internet und den Computer für seine Arbeit nutzt. Wurde Manfred Spitzer gar Opfer seiner eigenen postulierten Verdummung? Doch auch meinen Populismus beiseite. Nachdem nun einige Tage Gras über die durchs Dorf getriebene Sau gewachsen ist, würde ich mir doch noch mal gerne das Digitalpaket#D und die dazugehörigen Stimmen und Interessen zur Brust nehmen. Wie sinnvoll ist die Idee von Johanna Wanka wirklich und was triggert sie bei den verschiedenen Akteuren unseres Bildungssystems? Hier der Versuch eines 360-Grad-Blickes – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Bund gegen Länder

Bildung ist ja eigentlich Ländersache. Das Digitalpaket#D könnte nur deshalb von Berlin aus in eine mögliche Umsetzung gelangen, weil es eine Art Schlupfloch nutzt. Im Artikel 91c des Grundgesetzes heißt es, dass Bund und Länder „bei der Planung, der Errichtung und dem Betrieb der für ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechnischen Systeme zusammenwirken“ können. Vielen Bildungsländerfürsten schmeckt das Vorhaben also allein deshalb nicht, weil sie es als Eingriff in ihren eigenen Kompetenz- oder Machtbereich interpretieren. Als Schutz vor diesen Eingriffen wurde bei der Föderalismusreform 2006 eine Einmischung Berlins durch das sogenannte Kooperationsverbot eigentlich auch unterbunden. Und nun fand die Ministerin offenbar ein Hintertürchen. Das sollte man schon mal wissen, um zu verstehen, warum manch einer das Paket ablehnen wird.

2. Schimmel an den Wänden und verstopfte Schulklos

Experten schätzen den Sanierungsbedarf deutscher Schulen auf rund 34 Milliarden Euro. Dieser Bedarf an Modernisierung äußert sich in einigen Schulen ganz konkret in Form von infrastrukturellen Symptomen wie undichten Fenstern und Dächern, defekten Heizungen und in deren Folge natürlich prächtigen Schimmelkulturen an den Wänden der Klassenzimmer. Ein absolut untragbarer Zustand, der aber eben nicht erst seit Bekanntgabe des Digitalpakets existiert. Aber nun wird das dringende Thema natürlich anlassbezogen wieder auf den Tisch gebracht. Bevor man die Schüler mit Tablets und freiem Internet ausrüstet, solle man sich doch bitte zunächst um die Sanierung der Schulgebäude kümmern.

Klar, dieses Argument klingt auf den ersten Blick einleuchtend. Ein klassischer Nick-Treffer. Doch blickt man zurück auf den obigen ersten Punkt, wird einem schnell klar, dass dieses Argument formell keinen Halt findet. Sanierung von Schulen ist nun wirklich die klare Aufgabe der Kommunen und Länder. Der Bund darf hier noch weniger eingreifen und dafür gibt es vermutlich keine Schlupflöcher. Dennoch ist es natürlich wichtig, den Sanierungsbedarf zur Sprache zu bringen, auch wenn es in diesem Fall auf Kosten einer digitalen Bildungsinitiative geschieht. Aber vielleicht könnte man diesen Anlass ja auch dazu verwenden, konstruktiv die Sinnhaftigkeit des föderalistischen Bildungssystems zu diskutieren.

3. Digitale Infrastruktur als Lösung für alles?

Das Digitalpaket#D macht es sich auf der anderen Seite natürlich ganz schön einfach. Man stellt die Bildungsinstitutionen vor vollendete Tatsachen – wenn man denn schon nicht gemeinsam Bildungskonzepte entwerfen darf. Man wirft mit viel Geld um sich, erfreut nebenher noch die IT-Industrie und die Telekommunikationsanbieter und spielt den schwarzen Bildungspeter dann galant an die Kommunen zurück. Wir vom Bund liefern bald die neue Hardware, entwickelt ihr doch bitte inzwischen die dazu passende Software in Form von digitalen Bildungskonzepten. Mehr Silo geht wohl nicht mehr.

Die vorherrschende digitale Ungleichheit im internationalen Vergleich resultiert jedoch weniger aus infrastrukturellen Ursachen als vielmehr aus mangelhafter Kompetenz bei der Ausbildung und Fortbildung der zuständigen Pädagogen. Digitale Bildung ist, so albern es klingt, tatsächlich noch Neuland und bisher ist das frisch entstandene Wissen um diese neue Kulturtechnik noch nicht tief genug in die trägen Bildungsinstitutionen eingesickert. Auf der anderen Seite ist das aber auch mit ein Grund, warum man sich schnellstmöglich darum kümmern sollte. Im Bestfall – ganz digital gedacht – kollaborativ und miteinander vernetzt. Und nein, der Internetanschluss alleine ist nicht die Lösung unserer digitalen Defizite. Die dazugehörige Bedienungsanleitung muss schon irgendwie mitgeliefert werden.

4. Maßnahmen gegen angebliche digitale Verdummung

Angenommen, die Hypothesen von Spitzer & Co. bewähren sich– was wäre der bestmögliche pädagogische Ansatz, um einer Verrohung und Verdummung der Menschen durch das Internet zu begegnen? 83,8 Prozent der Deutschen nutzen das Internet, wie die aktuelle Onlinestudie von ARD und ZDF kürzlich veröffentlichte. 83,8 Prozent der Deutschen drohen also laut Manfred Spitzer zu verdummen? Was also tun? Den Stecker ziehen und hoffen, dass sich die Dummheit damit von alleine löst? Oder sich vielleicht doch mal von der eigenen erstarrten Sichtweise lösen, die Perspektive wechseln und endlich mal zugeben, dass das Internet dermaßen umfassend und komplex ist, dass man daraus keine holzschnittartigen Thesen ableiten kann. 

Das Internet macht Menschen per se nicht dümmer oder klüger. Ja, bei unsachgemäßer Verwendung, bei Mangel an Reflexion und fehlendem Bewusstsein hat das Internet selbstverständlich auch negative Auswirkungen auf eine Gesellschaft. Phänomene wie eine Entzivilisierung im und durch das Netz sind nicht von der Hand zu weisen, auch die Häufung von Stress durch eine Always-on-Mentalität ist nicht zu leugnen. Aber das ist keine fatalistische Grundeigenschaft der technologischen Infrastruktur, sondern beruht auf dem Mangel an digitaler Bildung. 

Bei der unsachgemäßen Benutzung eines Messers droht die Anzahl der Schnittwunden auch entsprechend zuzunehmen. Gerade bei einer drohende Verdummung durch die Fragmentierung unserer Gehirne scheint mir Bildung das einzig wirklich konstruktive Mittel der Wahl zu sein, um diesen angeblichen Bedrohungen entgegenzutreten. So wie man auch eine Zeitung anders gestalten kann, als die Bild-Zeitung es tut, oder wie Manfred Spitzer eine Fernsehsendung wie „Geist & Gehirn“ entwickeln kann, die Menschen ein bisschen klüger als dümmer macht. Niemand ist zur Verdummung verdammt – außer man akzeptiert diesen Fatalismus, dann wird sich diese Prophezeiung ganz sicher erfüllen. Wer also gerade vor den Risiken warnt, kann und darf sich als Wissenschaftler und Pädagoge nicht einfach diesem Thema durch Abstinenz und Prohibition komplett entziehen. Wer das tut, hat für meine Begriffe ein äußerst fragwürdiges Bildungsverständnis.

5. Computer-Lehrer-Schüler-Beziehungen

Das Internet – so auch Lehrerverbandspräsident Kraus – sei ein Kommunikationskiller. Jeder starrt nur noch auf den Bildschirm, statt sich zu unterhalten. Dass eine Medien- und Kommunikationstechnologie wie das Internet kommunikativen Austausch förmlich explodieren ließ, blendet Krause dabei leider aus. Auch die damit verbundenen Chancen – gerade im Hinblick auf die Lehrer-Schüler-Beziehung im Klassenzimmer – werden einfach ignoriert. Konzepte wie die Khan Academy, die auf dem Prinzip des Flipped Classrooms basieren, ermöglichen erst einen stärkeren zwischenmenschlichen Unterricht. Die Idee dahinter sieht wie folgt aus: Lehrstoff wird in Form von multimedialen Inhalten aufbereitet und den Schülern zur Verfügung gestellt. Anstelle von Hausaufgaben widmen sich die Schüler nun dem neuen Lernstoff per digitaler Aufbereitung (auch das Lesen von Texten und ganzen Büchern ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen). Schüler können sich das Material eigenständig so lange anschauen, vor- und zurückspulen, bis sie es verstanden haben. Man hat plötzlich ganz neue Freiheiten in der Vermittlung und Aneignung von Lehrstoff. 

Das Vor- und Zurückspulen von Lerneinheiten geht im Klassenzimmer leider nicht so gut. Die Zeit im Klassenzimmer selbst wird dann dazu genutzt, den selbst angeeigneten Lernstoff gemeinsam zu rekapitulieren, zu vertiefen und offenstehende Fragen zu beantworten. Der Lehrer wechselt also die Rolle vom reinen Stoffvermittler zum Lerncoach und Pädagogen. Intensiver kann die Lehrer-Schüler-Beziehung kaum gestaltet werden. Übrigens ist die Idee eines solchen Flipped-Classroom-Modells nicht gänzlich neu. Die Universität – bevor sie verschult wurde – arbeitet genau mit diesem Ansatz. Zu Hause liest der Student Texte und Bücher und die Seminare werden dazu genutzt, das Gelesene gemeinsam zu diskutieren und zu reflektieren. Natürlich ersetzen Computer keine Lehrer. Ganz im Gegenteil, Computer entlasten Lehrer – sofern sie selbst digital gebildet sind – und schenken ihnen mehr Freiraum für ihre pädagogische Arbeit.

Fazit

Ein bisschen weniger Aufregung hätte dem Thema gutgetan. Andererseits ermöglicht gerade diese Aufregung nun eine breiter geführte Debatte zum Thema (digitale) Bildung. Jeder kann sein persönliches Thema, sein Anliegen und seine Sorgen auf den Tisch bringen. Lasst uns also gerne über marode Schulen, das föderalistische Bildungssystem, unterbezahlte Lehrer und auch die Gefahr durch Internetmissbrauch sprechen. All das wäre nämlich Teil eines Bildungsprozesses. Meine Befürchtung ist jedoch, dass sich jeder mal wieder auskotzen durfte, wir uns zurück in unsere Silos begeben und bei der nächsten Sau wieder zusammenkommen. Daran ist bestimmt wieder dieses vermaledeite Internet schuld!

Dieser Artikel von Patrick Breitenbach erschien ursprünglich bei Merton, dem Onlinemagazin des Stifterverbandes.

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