Erfolgreiche Sprechstunden mit Virtual Reality: die „Mechanik VR-Office Hour“ an der HRW

Erfolgreiche Sprechstunden mit Virtual Reality: die „Mechanik VR-Office Hour“ an der HRW

27.06.22

Es ist Online-Sprechstunde – aber niemand geht hin? Im Modul Mechanik an der Hochschule Ruhr West wollte man sich nicht mit dieser misslichen Lage abfinden, stattdessen wurden neue Wege beschritten: Durch Rücksprache mit den Studierenden entstand die Idee der „Mechanik VR-Office Hour“, einer Sprechstunde in virtueller Umgebung. Das Projekt war ein voller Erfolg. Arne-Rasmus Jost und Savannah Falkenberger stellen das Good-Practice-Beispiel vor.Bild linke Seite: Im VR-Raum, Avatar blickt auf eine Leinwand. Text auf der rechten Seite:

Im WS 2021/2022 haben wir den Studierenden des ersten Semesters im Modul Mechanik I – Statik an der HRW zunächst wöchentlich sechs Webex-Sprechstunden in 20-Minuten-Blöcken angeboten. Diese konnten über die Lernplattform Moodle im entsprechenden Fachraum gebucht werden. In den Sprechstunden hatten die Studierenden die Möglichkeit, Kontakt zu uns Lehrenden aufzunehmen, um Verständnisfragen zur Vorlesung, Übung, dem Praktikum oder auch allgemein zum Ablauf der einzelnen Veranstaltungen zu stellen. Unsere anfängliche Sorge, die insgesamt 78 Blöcke könnten gegebenenfalls nicht ausreichen, bestätigte sich nicht. Die Realität sah in der Tat völlig anders aus als erwartet. Von insgesamt etwa 150 in den Moodle-Kurs eingeschriebenen Studierenden buchten über den Zeitraum des gesamten Semesters lediglich zwei Studierende einen Termin. Die Ursache für die geringe Resonanz war uns anfangs unklar. Offenbar führte aber die Bitte, eine Kamera bei der Videosprechstunde zu aktivieren zum Teil zu so großen Hemmungen, dass die Studierenden keine Buchung vornahmen. Einige Studierende nannten auch fehlende technische Ausstattung oder Internetprobleme als Ursache.

Für uns Lehrende ist es eine unbefriedigende Situation, wenn zum einen kaum Sprechstunden gebucht werden und zum anderen Vorlesungen, Übungen oder auch Online-Sprechstunden ohne Kamerabild seitens der Studierenden stattfinden. In diesem Moment besteht keine Möglichkeit der visuellen Rückmeldung durch Körpersprache oder Mimik als Signal für aktives Zuhören und/oder Verstehen. Außerdem entwickeln sich derartige Veranstaltungen – wenn man nicht aktiv dagegen ansteuert – schnell zu einem Monolog des Lehrenden, der sich zwischenzeitlich des Öfteren die Frage stellen mag, ob sich hinter den grauen Kacheln überhaupt Studierende verbergen. Das war in den vergangenen Semestern in Präsenzsprechstunden anders. Diese waren deutlich höher frequentiert und lebendiger.

Also haben wir intensiv nach einem Format gesucht, das es ermöglicht, Studierende zu motivieren, an Sprechstunden oder Online-Veranstaltungen teilzunehmen und sich dort auch aktiv einzubringen.

 

Wie kann die Situation verbessert werden?

  1. Wie können die Studierenden dazu motiviert werden, überhaupt eine Online-Sprechstunde zu buchen und diese dann auch zu besuchen?
  2. Wie können sie dazu gebracht werden, mindestens so aktiv wie zuvor in der Präsenzveranstaltung teilzunehmen?

Durch persönliche Gespräche mit Studierenden zeigte sich eine überraschend einfache Lösung: Die meisten Studierenden bevorzugen Sprechstunden, die nicht in Einzelterminen mit dem Lehrenden stattfinden, sondern in einer Gruppe von zwei bis vier Studierenden. Hier scheint die Anonymität innerhalb der Gruppe eine große Rolle zu spielen. Außerdem konnten sich die Studierenden vorstellen, dass Spaß, bzw. spielerische Akzente dazu führen würden, sich in einer virtuellen Sprechstundenumgebung wohler zu fühlen als bei einem persönlichen Vier-Augen-Gespräch im Büro des Lehrenden. Sie nahmen außerdem an, dass die entspanntere Atmosphäre auch mit einer Interessenssteigerung und somit auch einem „besseren Behalten“ einhergeht.

Unter Berücksichtigung dieser Punkte führten wir die „Mechanik VR-Office Hour“ ein. Dabei handelt es sich um eine Sprechstunde, die den Studierenden in einer spielerischen Umgebung die Kontaktangst zum Lehrenden und die Hemmungen, sich zu präsentieren nimmt.

 

Wie wurde die Idee in der Lehre umgesetzt?

Zunächst haben wir nach einer möglichen Plattform gesucht, um Sprechstunden im virtuellen Raum anbieten zu können. Unter der Vielzahl möglicher Anbieter kristallisierten sich schnell einige wenige Programme auf Grund ihrer Unabhängigkeit von einem bestimmten Betriebssystem heraus. Außerdem sollten die Programme intuitiv zu bedienen und kostenfrei für die Studierenden erhältlich sein.

Aufgrund der einfachen Handhabung, Funktionalität und der kostenlosen Verfügbarkeit fiel unsere Entscheidung letztendlich auf das Microsoftprodukt AltspaceVR. Dieses Programm erinnert schon durch sein comicähnliches Design eher an ein Computerspiel als an ein Lernprogramm. Die Studierenden stehen einem Avatar und nicht ihrem Lehrenden gegenüber. Die Erfahrung zeigt, dass dies Hemmungen reduziert und der allgemeine Umgang weniger „verkrampft“ ist.

Innerhalb des Programms können alle Teilnehmenden über ihre Microsoft-Accounts, die von der Hochschule Ruhr West zur Verfügung gestellt werden, ein Nutzerkonto anlegen. Der nächste Schritt besteht darin, einen Avatar zu erzeugen, der den Anwender, also den Studenten oder die Studentin verkörpert. Durch unterschiedliche, frei wählbare Gestaltungsmerkmale ist es möglich, einen Avatar zu schaffen, der entweder gewisse Ähnlichkeiten zum jeweiligen realen Pendant aufweist oder aber so erstellt wird, dass diese Rückschlüsse bewusst nicht möglich sind. Auch der Benutzername kann frei vergeben werden und muss keine Ähnlichkeit zum wirklichen Namen der Person aufweisen. Die Steuerung des eigenen Avatars ist mit der Computertastatur oder dem Mobiltelefon möglich und erfordert daher nicht zwingend den Einsatz einer VR-Brille. Falls vorhanden, kann diese aber verwendet werden.

AltspaceVR lässt bei der Erstellung von Meetingräumen eine Menge Gestaltungsfreiräume. Fertig angebotene Räume wiesen nicht oder nur eingeschränkt die Funktionalitäten auf, die wir uns im Vorfeld überlegt und als notwendig erachtet hatten. Im Mechanik-VR-Raum sollte die Möglichkeit gegeben sein, eine PowerPoint-Präsentation über mehrere Leinwände darzustellen. Dies erschien uns notwendig, um einfache, erklärende Beispiele spontan skizzieren zu können und auch handschriftliche Anmerkungen einfließen zu lassen. Außerdem sollten Rückzugsorte für persönliche Gespräche, aber auch Wartebereiche eingerichtet werden. Insbesondere letztere wollten wir durch spielerische Angebote, wie ein Dartspiel oder Basketballkörbe, erweitern. All dies machte es erforderlich, durch Drittsoftware (Unity) einen komplett neuen Raum zu generieren, der unseren Anforderungen gerecht wurde. Das Ergebnis lässt sich durchaus sehen und besteht aus einem Gebäude mit großem Präsentationsraum, mehreren Nischen zum ungestörten Austausch und Diskussionen, sowie einer umgebenen Landschaft, die in den Lernpausen zum Verweilen einlädt.

Wir haben besonderen Wert darauf gelegt, keinen Hörsaal oder Seminarraum der Hochschule detailgetreu nachzubilden, sondern eine entspannte und relativ neutrale Umgebung zu schaffen.

Zugang zum virtuellen Mechanik-Raum erhalten die Studierenden ausschließlich über einen sechsstelligen Code, der im entsprechenden Moodle-Raum veröffentlich wird und sich somit nur an diejenigen Studierenden wendet, die vom System anhand ihrer Belegungsdaten für das Modul eingeschrieben wurden.

Ein erster Test, zu dem sich 28 Studierende anmeldeten, erfolgte im Dezember 2021. Da zu diesem Zeitpunkt noch mit einer Version gearbeitet wurde, die eine maximale Besucheranzahl von 30 Personen zuließ, wurde diese Grenze mit zwei ebenfalls anwesenden Lehrenden erreicht.

Zunächst entschlossen wir uns, eine vorbereitete Übungsaufgabe auf die drei im Raum verteilten Leinwände zu projizieren. Bei dieser Aufgabe ging es um ein statisches System, bei dem unter einer gegebenen Belastung die Schnittgrößen ermittelt und anschließend grafisch dargestellt werden sollten. Die Lösung der Aufgabe erfolgte handschriftlich auf einem zusätzlich angeschlossenen Tablet, was es ermöglichte, das Geschriebene direkt in die Präsentation zu übertragen.

Die Präsentation und schrittweise Lösung der mechanischen Aufgabe konnte von allen anwesenden Studierenden gut gesehen werden. Vereinzelt kam es zu Zwischenfragen, die nicht nur erwünscht waren, sondern auch einen guten Eindruck über die Akustik im Raum lieferten, denn wie in jedem realen Raum nimmt der Schallpegel auch im virtuellen Raum mit der Entfernung ab. Einen unangenehmen Hintergrundpegel, wie sonst in größeren Präsenzveranstaltungen möglich, gibt es somit nicht.

Anschließend gab es die Möglichkeit, in kleineren Gruppen oder auch Einzelgesprächen Fragen zu stellen, wovon auch Gebrauch gemacht wurde.

 

Rückmeldung von Studierenden und Lehrenden

Die virtuell durchgeführte Übung und die anschließende Besprechung im Rahmen der Sprechstunde waren ein voller Erfolg. Die aufkommenden Gespräche und gestellten Fragen zeigten bei den Studierenden eine deutlich geringere Hemmschwelle, verglichen mit den Online-Sprechstunden in Webex und sogar im Vergleich mit den Präsenzsprechstunden auf dem Campus vor der Pandemie.

Auch die Studierenden gaben während der Mechanik VR-Office Hour durchweg positives Feedback. Zum einen wurde das neue Format gelobt und festgestellt, dass Sprechstunden und Übungen gerade auch in einer virtuellen Umgebung einen intensiveren Eindruck hinterlassen. Dies wird offensichtlich durch die gefühlte persönliche Anwesenheit in einer comicartigen Umgebung gefördert. Zum anderen hoben die Studierenden die Möglichkeit lobend hervor, sich in Gruppen nach der Veranstaltung noch austauschen zu können. Auch die Tatsache, dass alle Studierenden der Mechanik-Gruppe zu jeder Zeit – also auch außerhalb der Veranstaltungen – die Möglichkeit haben, sich mit Kommilitonen in dem virtuellen Raum treffen zu können, wurde positiv vermerkt. In wie weit dieses Angebot in Zukunft weiter genutzt wird, wird sich in den noch kommenden Semesterwochen zeigen.

 

Warum ausgerechnet eine VR-Office Hour?

Das neue Format der Mechanik VR-Office Hour bietet viele Vorteile:

  • Motivation: Durch die neue Welt, in der die Sprechstunde stattfindet, entsteht bei den Studierenden eine gewisse Neugierde. Der Wunsch VR einmal auszuprobieren ist in der Regel größer als die Hemmung, eine Sprechstunde zu buchen.
  • Einprägsamkeit: Durch eine gefühlt physische Anwesenheit in einer comicähnlichen Welt wird das Erlernte intensiver wahrgenommen und besser behalten.
  • Flexibilität: Studierende können sich zu jeder Zeit im virtuellen Mechanik-Raum treffen, unabhängig davon, ob eine Veranstaltung geplant ist oder nicht, um sich dort austauschen.
  • Fokus: Studierende können an der Mechanik VR-Office Hour sowohl aktiv als auch passiv teilnehmen und sich jederzeit in der virtuellen Welt zurückziehen, um sich zu unterhalten, ohne, dass eine laufende Veranstaltung gestört wird. Diese Möglichkeit beugt einem möglichen „zoom fatigue“ vor.
  • Erreichbarkeit: Teilnehmen können alle Studierenden, die in den entsprechenden Moodleraum eigeschrieben sind, da alle technischen Plattformen unterstützt werden, einschließlich Mobiltelefone. Das ermöglicht den Studierenden zu jeder Zeit und an jedem erdenklichen Ort die Teilnahme an der Mechanik VR-Office Hour.

 

Ausblick: Wie geht es weiter?

Der virtuelle Mechanik-Raum bietet inzwischen deutlich mehr als 28 Studierenden Platz. Er wurde auf etwa 120 Personen bemessen und bietet diesen genügend Möglichkeiten, sich im Raum zu verteilen. Geplant ist eine noch in diesem Jahr stattfindende Großveranstaltung mit möglichst allen Mechanik-Studierenden eines Semesters. Diese ist zum Semesterbeginn des Wintersemesters 2022/2023 vorgesehen, unabhängig von einer dann möglichen Rückkehr zum vollständigen Präsenzbetrieb.

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