Ein Appell für den Arbeitsmarkt Wissenschaft

Ein Appell für den Arbeitsmarkt Wissenschaft

22.07.19

Digital world. And the labour market?

Prof. Dr. Michael Jäckel erläutert seine Anmerkungen zum Empfehlungspapier des Rats für Informationsinfrastrukturen (RfII) „Digitale Kompetenzen – dringend gesucht! Empfehlungen zu Berufs- und Ausbildungsperspektiven für den Arbeitsmarkt Wissenschaft“. Ein Gastbeitrag.

Computer oder Stadt?

„Jeder neue Output des Silicon Valley […] ist ein Ereignis der sozialen Physik.“ Mit diesen Worten beschrieb Frank Schirrmacher im Jahr 2013 pointiert einen Prozess, der sich eigentlich lange hinzieht, also viel mehr als ein Ereignis oder ein vorübergehendes Phänomen ist. Soziale Physik ist eigentlich ein Begriff des 19. Jahrhunderts, der, verkürzt gesprochen, naturwissenschaftliches Denken mit Vorstellungen von Ordnung und Fortschritt einer Gesellschaft zusammenfügte. Heute meint Digitalisierung auch mehr als einen Umwandlungsprozess von Analogem in Digitales, sondern einen Bauplan »for the whole way of life«. Anders formuliert: Wer von Digitalisierung spricht, tanzt auf einer gut besuchten Hochzeit.

Alles, was die Bereitstellung von Informationen, die Kommunikation zwischen wenigen oder vielen, die Suche in und Archivierung von Datenbeständen betrifft: Es ist zwar immer noch lesen und betrachten und hören, aber zugleich auch mehr als etwas gefühltes Anderes. Wer heute sucht, erwartet Mannigfaltigkeit; wer liest, erlebt die Herausforderung der Konzentration; wer archiviert, stellt fest, wie wichtig neue Ordnungssysteme sind. Was die Gesellschaft als Ganzes und ihr ständig nach neuen Rekorden strebendes Kommunikationsaufkommen betrifft, berührt im Kern auch die Welt der Wissenschaft.

Das Wissenschaftsjahr 2018 war dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“ gewidmet. Die Wissenschaft selbst blickt – nicht nur zu solchen Anlässen – vorzugsweise auf den Wandel außerhalb der eigenen Mauern. Denn die Wissenschaft hat für sich stets eine besondere Freiheit des Arbeitens reklamiert und aus dieser Distanz den nüchternen Blick auf „die Welt da draußen“ praktiziert. Das neue Empfehlungspapier des Rats für Informationsinfrastrukturen „Digitale Kompetenzen – dringend gesucht!“ geht nun gezielt in dieses Innere der Wissenschaft, thematisiert gleichwohl nicht dieses Privileg der Freiheit von Forschung und Lehre, sondern Herausforderungen, die das so wichtige Ziel des Erkenntnisfortschritts verstärkt begleiten. Im Mittelpunkt steht der systemische Blick, verbunden mit einer Konzentration auf den Hochschulsektor, der im Arbeitsmarkt Wissenschaft nicht konkurrenzlos ist. Da ist der Wirtschaftssektor mit der unternehmerischen Forschung und Entwicklung, und da ist der große Bereich der außeruniversitären staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen.

Systemisch heißt in diesem Zusammenhang vor allem, mehr Ordnung in die vielen Appelle zu bringen, die aus der Einsicht abgeleitet wurden, dass die Digitalisierung auch die Wissenschaften verändert. Sie entspricht nicht einer Insel, auf der gelegentlich verweilt werden kann – auch im Sinne eines selektiven Engagements –, sie steht für Abläufe, die einen Sog auf gewohnte Praktiken ausüben. Wer diesen Prozessen misstraut, hofft noch auf die Kraft einer analogen Zweit- oder Altwelt. Aber weder das durch ein defektes Verkehrsleitsystem ausgelöste Chaos noch die Schlange vor dem fehlerhaften Scanner einer Mensakasse führen zum Verzicht auf diese Steuerung. Sie wächst aus und an ihren Fehlern.

Dass Schlagworte hier die Diskussion maßgeblich regieren, ist bekannt. Aber die Wissenschaft hat auch erkannt, dass es von Beginn an nützlich ist, den Kompetenzaufbau in den eigenen Reihen als Chance zu nutzen. Das beginnt bei der Frage, was heute zu einer wissenschaftlichen Propädeutik gehören muss. Denn die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens haben eben auch sehr viel von einem anderen Lesen, Hören und Suchen, von dem eingangs die Rede war. Zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis gehört die Vermittlung von Kompetenzen, die aus dem sehr datengetriebenen Forschungsprozess hervorgehen, auch für solche, die später nicht in der Wissenschaft arbeiten. Förderprogramme, z.B. im Bereich „Data Literacy“ sollen den guten Blick und das verlässliche Urteil schulen, und dies schon in einer Phase, die auf das gegebenenfalls dauerhafte wissenschaftliche Arbeiten vorbereitet. Für das Bestandspersonal gilt es, bedarfs- und vor allem wissenschaftsgerechte Qualifizierungsangebote zu schaffen. Was den Kompetenzaufbau betrifft, rät der RfII zur Bündelung der Kräfte innerhalb der Wissenschaft – gemeinsame Personalentwicklungsinteressen müssen hier stärker wiegen als die innerwissenschaftliche Konkurrenz der Standorte.

Die Disziplinen selbst erleben den Wandel mit den Herausforderungen, die neue Technologien schaffen, aber ebenso mit den Chancen, die sie als Beobachtungs- und Analyseinstrumente bereitstellen. Zusätze wie  „digital“ zu etablierten Disziplinen mögen hier und da noch als Modephänomen eingestuft werden, aber sie signalisieren doch auch die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf neue Forschungsfelder. Wir wissen, dass in „Data Science“ sehr Unterschiedliches repräsentiert sein kann, wir sehen eine weitgehend entspannte Adaption neuer Verfahren in vielen – nicht nur naturwissenschaftlichen – Disziplinen, wir kennen die Kontroversen um die Zielsetzung einer „Digital“ oder „Computational Sociology“, der „Digital Humanities“ oder der „Digital History“. Wir registrieren, dass in Diskussionen um Künstliche Intelligenz das euphorische Nachvorneblicken ebenso existiert wie der Hinweis auf eine doch schon sehr lange Tradition dieser Forschungsrichtung. Im Ergebnis erinnert vieles also an eine Beobachtung von Andrew Abbott, der in seinem Buch „The System of Professions“ im Jahr 1988 die These vertrat, dass es im Falle von Berufen nicht nur – was naheliegend ist – um Kompetenzen geht, sondern eben auch um Zuständigkeiten. In einer zusammenfassenden Darstellung dieses Buches schrieb Jürgen Kaube: „[…] dass man die Geschichte eines Berufsbildes nur schreiben kann, wenn man die Geschichte der benachbarten Berufe einbezieht.“ Diese Beobachtung lässt sich wohl ohne Weiteres auch auf den Wandel der Aufgabenfelder im Hochschulwesen, ausgelöst durch neue Möglichkeiten und neue Erwartungen gleichermaßen, übertragen. Die neuen Bedarfe machen deutlich, dass es ohne neue Kompetenzen nicht geht.Digitale Welt. Und Arbeitsmarkt?

Zur Historie des Empfehlungspapiers gehört eine ausführliche Sichtung beispielhafter Lösungsansätze, die die Studien- und Qualifizierungsphase, aber auch Fort- und Weiterbildungsangebote umfasst. Das betrifft im Kern die akademische Lehre und die Frage, was zukünftig dazugehören sollte. Ebenso hat es zahlreiche Gespräche mit neuen Akteuren gegeben, die auf verschiedenen Ebenen (lokal, regional, bundesweit) neue Organisationsmodelle und/oder Serviceeinrichtungen etablierten. Gemeinsam ist diesen Initiativen die Einsicht, dass neue Formen der Arbeitsteilung in der Wissenschaft selbst unerlässlich werden. Auch die Forschungsförderung hat diese Notwendigkeit längst erkannt und bereitet Instrumente vor, die den besonderen Herausforderungen der Wissenschaft im digitalen Zeitalter gerecht werden können.

Welche Art von Spezialisierung und welche Form von Interdisziplinarität sich in dieser noch etwas unübersichtlichen Gemengelage ergeben wird, sollte nicht einfach mit „Vielfalt“ beschrieben werden. Zum wissenschaftlichen Arbeiten wird zukünftig dazugehören, dass entlang des gesamten Prozesses die rein fachliche Expertise durch ein Spektrum sehr wissenschaftsnaher Dienstleistungen ergänzt werden muss. Das Empfehlungspapier spricht daher nicht mehr vereinfacht von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Personal, sondern von Aufgabengruppen, die forschungs- bzw. fachnahe Expertise benötigen. Welche „Berufsbezeichnung“ diese neuen Arbeitsfelder letztlich bekommen werden, entscheidet sich dann im kreativen Wettbewerb. Das gilt auch für neue Berufsfelder in Bibliotheken und (ehemals) Rechenzentren. In seinen Empfehlungen geht der Rat daher über die Verankerung digitaler Kompetenzen in Curricula, Fortbildungsangeboten und Qualifizierungsallianzen hinaus. Er nimmt das Tarif- und Arbeitsrecht in den Blick und fordert flächendeckende wissenschaftsspezifische Tarifregelungen, vor allem mehr Flexibilität, um forschungsnahes Servicepersonal differenzierter abbilden zu können. Diesem Wunsch liegt auch die Erfahrung zugrunde, dass die Besonderheit, an einer Hochschule bzw. Universität tätig sein zu dürfen, als Anreiz offenbar an Bedeutung verloren hat. Hier sagt uns der systemische Blick, dass auch Reputationsgewinne dringend gesucht sind. Das Papier fragt somit auch, was uns die Wissenschaft insgesamt wert ist.

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