Digitalisierung greifbar machen: Der schwierige Übertrag von Theorie auf Praxis in der Hochschullehre

Digitalisierung greifbar machen: Der schwierige Übertrag von Theorie auf Praxis in der Hochschullehre

03.02.16

Ann-Kathrin Watolla, @ak_watolla, und Christian Friedrich, @friedelitis, (beide Leuphana Digital School) zu Ergebnissen und Einsichten aus den Workshops zur Digitalisierung der Hochschullehre im Rahmen des „Tags der Lehre”, veranstaltet an der Leuphana Universität Lüneburg.

Es gibt sie inzwischen zuhauf, die Tagungen, Konferenzen, Symposien und Workshops, die Digitalisierung der Hochschullehre als zentrales Thema behandeln, dem es zu begegnen gilt. Die Fragen, die hier diskutiert werden, kennt die meist gleich bleibende Teilnehmerschaft nur zu gut: Was ist gute digitale Lehre? Welche Voraussetzungen braucht es, sowohl auf strategischer Ebene als auch in der Personal- und Lehrplanung, um diese zu ermöglichen? Wo liegen Grenzen des (hochschul-)rechtlichen Rahmens, wo in Bezug auf Urheberrecht, Datenschutz und Datensicherheit? Wie können digitale Lehrformate jenseits eines reinen Abbildens von Präsenzlehre in Online-Formaten einen Mehrwert bieten?

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen wir uns nun seit einigen Jahren. Doch wie verhält es sich, wenn die dort erarbeiteten Impulse und Ideen in den Lehralltag zurückgeführt werden sollen? Wie gehen wir mit den gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen um, wenn wir das familiäre Umfeld der Experten und Fürsprecher wieder verlassen, wenn weniger das wie, sondern vielmehr das ob digitaler Lehrformate in Frage gestellt wird? Wir sprechen bei der Online Educa, den eMOOCs-Konferenzen, dem Hochschulforum Digitalisierung, erst kürzlich bei #MappingOER und bei vielen weiteren Veranstaltungen über die Möglichkeiten, die sich der Lehre durch Digitalisierung eröffnen. Wir wägen Vor- und Nachteile verschiedener Modelle und Konzepte ab und erörtern Didaktik und Tools. Und wir appellieren an Politik und Hochschulleitungen, Strategien zur Digitalisierung fest in Hochschulgesetze und Zielvereinbarungen zu verankern. Doch die Überwindung des Ungleichgewichts zwischen denjenigen, für die digitale Lehre in der Bereitstellung eines PDF zum Download besteht, und den Experten und Fürsprechern der nativen Möglichkeiten digitaler Lehre gestaltet sich schwierig.

Lösungen für die Dissonanz

Mit dem Ziel, für diese Dissonanz Lösungen zu finden, bereiteten wir Workshops zu Connected Learning (CL) und Open Educational Resources (OER) im Rahmen des ersten Tags der Lehre Mitte Januar 2016 an der Leuphana Universität Lüneburg vor: Es war eine Möglichkeit, die geführten Diskussionen und ihre Ergebnisse in die konkrete Anwendung und Umsetzung im Lehralltag zu überführen und mit Lehrenden ins Gespräch zu kommen, Möglichkeiten und Herausforderungen zu diskutieren. Nach einer kurzen Einführung in das jeweilige Thema sollten die Lehrenden ihre eigenen Veranstaltungen analysieren und Möglichkeiten erarbeiten, CL und OER sinnvoll einzusetzen, ihre eigenen Veranstaltungen zu verändern und sich mit anderen Teilnehmerinnen darüber auszutauschen, wie sich Lernziele, Interaktion mit Studierenden und auch das eigentliche Curriculum ihrer Veranstaltung ändern würde. 

Die Resonanz war verhalten. Parallel zu dem Themenstrang „Interaktive digitale Lehre“ fanden Veranstaltungen zu Interdisziplinarität, Diversität oder auch Erfahrungsorientierung statt, und die Teilnehmer schienen darin mehr Relevanz für die eigene Lehre zu sehen als in dem Austausch über Potentiale digitalisierter Lehre und ihrer Übertragung auf die eigene Lehre. Dem Eindruck, dass Digitalisierung im Verhältnis zu den genannten anderen Themen eher einen Fremdkörper in der Lehre darstellt, konnten wir uns nicht gänzlich erwehren. 

Dass dies nicht unbedingt an einem allgemeinen Desinteresse an dem Thema liegt, sondern es sich oftmals um ein fehlendes Verständnis davon handelt, was mit digitaler Lehre überhaupt gemeint ist, zeigten auch die Diskussionen während des Tags der Lehre. Allzu oft wird digitalisierte Lehre mit Smartphones, Tablets, ‚Wisch-Gesten’, Videospielen und Downloads gleichgesetzt, ohne sich dem originären Mehrwert anzunähern. Mythen darüber, welche Auswirkungen Digitalisierung auf die Lehre habe, halten sich beharrlich, ungeachtet aktueller Forschung oder Erfahrungsberichten. Dieses fehlende Verständnis mündet in Unsicherheit und Skepsis. 

Im ersten Schritt braucht es also Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit den Technologien, dem Internet und web-basierten Tools. Der Erwerb von Digital Literacy und Web Literacy muss hier den Grundstein bilden (Doug Belshaw liefert mit seinen 8 C’s und der Unterscheidung in Skillsets und Mindsets einen sehr guten Einstieg in das Thema: 

Digital Literacies: 8 essential elements (4 mindsets, 4 skillsets) More here: http://t.co/ThZ2QdtVCs #digilit pic.twitter.com/CcvpI8KNfv

— Doug Belshaw (@dajbelshaw) September 18, 2015

Anlaufstellen für Lehrende

Ohne grundlegende Kenntnisse, wie ‚das Web funktioniert’, welche Tools es überhaupt für welches Lernszenario gibt, was in Bezug auf Kommunikation, Interaktion und Kollaboration online möglich ist und was von Studierenden zu erwarten ist oder erwartet werden kann, braucht über Für und Wider einzelner digitaler Formate gar nicht gesprochen werden. Die Vermittlung dieser Kenntnisse muss einerseits ihren Weg in die Lehrendenbildung finden, aber wir müssen sie auch schon jetzt aktiv vermitteln und anbieten – integriert in jede Veranstaltung, die sich mit Lehre an Hochschulen befasst. Je eher wir dies initiieren, desto eher wird ein generationsübergreifender Wandlungsprozess in der Einstellung zu Digitalisierung in der Lehre ermöglicht. Auch Studierende sehen in ihrem derzeitigen Verständnis von digitalen Lehrformaten nicht immer Mehrwerte, sie kommen – genau wie Lehrende – zu selten mit den wirklich ‚innovativen’, durchdachten und wertvollen Konzepten in Berührung; ein Umstand, den wir nur über die Implementierung eben solcher Formate in der Lehre ändern können.

Strukturell müssen Anlaufstellen für jeden einzelnen Lehrenden geschaffen werden. Zwar gibt es an fast jeder Universität und Hochschule e-Learning-Zentren, doch um ein ausreichendes, konstantes und flächendeckendes Beratungs- und Unterstützungsangebot für Lehrende verfügbar zu machen ist noch viel zu tun. Meist erhalten Lehrende in diesen Einrichtungen erst dann Unterstützung bei der Implementierung von digitalen Elementen in ihrer Lehre, wenn sie aktiv auf bestehende Ansprechpartner zugehen. So drängen wir Lehrenden eine Holschuld auf, die ihnen einerseits möglicherweise gar nicht bewusst ist und die andererseits ihre Kapazitäten überschreitet.

Mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung, mehr Aktivität

Der daraus resultierenden Passivität sollten wir mit konsequenter Aktivität entgegentreten: anstatt von Lehrenden zu verlangen, sich von sich aus zu Digitalisierung zu verhalten, sollten wir auf sie zugehen. Während die Diskussionen, Stakeholderforen und Workshops zur strategischen Ausrichtung einer Hochschule sicher ihre Berechtigung haben und für eine strukturelle Veränderung unabdingbar sind, so sollte sich aber auch gleichzeitig jeder der teilnehmenden Experten selbst als Multiplikator verstehen. Jenseits der Familientreffen in der geschützten Blase der Befürworter sollten wir nicht darauf warten, dass sich Lehrende irgendwie zu Digitalisierung verhalten und bestenfalls selbstständig Beratungsleistungen in Anspruch nehmen. Wir müssen sie aktiv ansprechen, sie informieren, ihnen Zugänge zu den Themen, die uns täglich beschäftigen, liefern, sie mentorieren und coachen. Lehrende haben nicht nur eine Holschuld, sondern wir, die Experten und Fürsprecher, haben eine Bringschuld, wenn es darum geht, die Potentiale in Lehrveranstaltungen nutzbar zu machen, und diese entsprechend zu positionieren und zu kommunizieren. Universitäre Strategien zu entwickeln, die solche Prozesse initiieren und steuern, wird nicht ausreichen. Wenn diese sowohl den Digitalisierungs-Experten als auch den Lehrenden entsprechenden Freiraum und Ressourcen einzuräumen, gehen wir jedoch schon einen Schritt in die richtige Richtung. Aber neben allgemeinen Informationsveranstaltungen und Beratungsangeboten müssen wir spezifische Handlungsempfehlungen und Unterstützungsprozesse bereitstellen, Multiplikatoren identifizieren und mit ihnen Lösungen entwickeln, und Lehrende beim Einsetzen von und Experimentieren mit digitalen Lehrelementen begleiten. 

Natürlich muss der Lehre eine viel höhere Aufmerksamkeit und Wertschätzung zuteil werden als dies derzeit (übrigens gerade von den Präsenz-Lehrenden) wahrgenommen wird. Natürlich muss es Lehrdeputats-Regelungen geben, die in der Praxis anwendbar sind. Natürlich muss eine Hochschule in Berufungsverfahren und Zielvereinbarungen ein gesteigertes Augenmerk auf gute Lehre richten. Natürlich brauchen wir ein geändertes Urheberrecht sowie sichere und klare Regeln für Datensicherheit und Datenschutz. Und natürlich müssen Land und Bund ihre Mittel einsetzen, um die Hochschulen strategisch in diese Richtung zu bewegen. 
Bis es nun aber so weit ist, sollten sich diejenigen, die in Expertenrunden und Stakeholder-Dialogen zu digitaler Lehre sprechen und schreiben, sich auch dem konkreten Austausch mit den Lehrenden stellen und helfen, wo es möglich ist. Dieser Austausch bietet die Chance eines wahren Transfers dessen, was wir in Foren, Workshops und auf Tagungen erarbeiten – ergänzend und flankierend zu Hochschulstrategien, Wettbewerben und Fördermitteln. Der Austausch mit dem Lehrenden ‚von nebenan’.

An der Leuphana Universität werden wir im kommenden Semester eine Workshop-Reihe „Digitale Formate in der Hochschullehre” einrichten. Ziel ist es, konkrete Konzepte und Ansätze vorzustellen, Potentiale aufzuzeigen und diese mit Lehrenden gemeinsam umzusetzen. Wie gehen Sie mit diesem Thema an Ihrer Hochschule um? Welche Erfahrungswerte haben Sie gesammelt?

Bild 1: Hernán Piñera „Touch„, CC BY-SA 2.0 via flickr.com

Bild 2: Jorge Gonzalez „Information“, CC BY-SA 2.0 via flickr.com

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