Digitalisierung gemeinsam gestalten: Trends für die 2020er-Jahre

Digitalisierung gemeinsam gestalten: Trends für die 2020er-Jahre

22.11.21

Der HFD-Sammelband „Digitalisierung in Studium und Lehre gemeinsam gestalten“ ist thematisch in fünf Teile gegliedert. Die Beiträge des ersten Teils, „Hochschulbildung und Digitalisierung“, zeigen auf, dass die Gestaltung der Digitalisierung in erster Linie eine soziokulturelle Frage ist, die in den Hochschulen wie auch in der Community verhandelt wird. In seinem Beitrag „Hochschulbildung und Digitalisierung – Entwicklungslinien und Trends für die 2020er-Jahre“ legt Markus Deimann Mythen und Narrative offen, die in der Vergangenheit die Einführung des E-Learnings und der Neuen Medien begleitet haben und die den Diskurs bis heute prägen. Deimanns kritische Bestandsaufnahme schließt mit einer „andere[n] Lesart von Digitalisierung, die enger an den Bedürfnissen der Hochschullehre ansetzt.“  Foto eines großen leeren Raums mit Blick auf eine tapezierte Wand mit sieben Türen, sechs sind weiß, eine Tür ist gelb. Text: Blogreihe zum HFD-Sammelband. Teil 1: Hochschulbildung und Digitalisierung. Markus Deimann: Entwicklungslinien und Trend für die 2020er-Jahre

Früher war alles besser – unter anderem die Zukunft. Heute erscheint sie uns „insgesamt nicht mehr so attraktiv“, bemerkt Markus Deimann zu Beginn seines Beitrags, in dem er es sich zur Aufgabe gemacht hat, mögliche Zukunftsszenarien der digitalen Hochschulbildung zu entwerfen. Doch Vorausschauendes braucht auch den Blick zurück: Zunächst in eine Zeit, in der man von Technologie als „Motor für gesellschaftlichen Fortschritt“ fasziniert war, die Einführung des E-Learnings in den 90er-Jahren. Auch den MOOC-Hype der frühen 2000er nimmt Markus Deimann in den Blick, um abschließend unter dem Stichwort der Datafizierung eine Zukunftsvision zu entwerfen, für die sich Bildungseinrichtungen „konzeptionell wappnen“ sollten. 

Das Erbe des E-Learnings 

Deimann beginnt seine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Digitalisierung als Fortschrittsnarrativ in den 90er-Jahren, einer Zeit, in der ein Gefühl von Modernisierung und Aufbruch vorherrschte, der sich auch in dem Begriff der „Neuen Medien“ spiegelt. Gleichzeitig verweist dieser – auch schon in semantischen Nähe zum „Neuen Markt“ und der politischen „Neuen Mitte“ – auf eine problematische „ökonomische Engführung von Modernisierung und die Anpassung von Hochschulbildung an die Erfordernisse des freien Marktes“. Ein vorherrschendes Narrativ dieser Zeit war das des „Cyber-Libertarismus„, in dem sich die linke Freiheitsbewegung und der Neoliberalismus in ihrem „Glauben an die Technik als die treibende Kraft zur Befreiung des Individuums von politischen und sozialen Beschränkungen sowie zur Verwirklichung eines neuen digitalen Markts“ vereinen. 

Die Einführung des E-Learnings weckte sowohl Hoffnungen auf eine nachaltige Qualitätsverbesserung als auch gleichzeitig auf Kostenersparnis – zu einem Zeitpunkt, in dem an den Universitäten „ausgeprägter Krisendiskurs“ herrschte. Sieht man sich an, welche Ideale und Wunschvorstellungen mit dem Einsatz des E-Learnings verknüpft waren, so wird laut Deimann klar, dass ein „Kampf der Kulturen“ zwischen marktwirtschaftlich orientiertem Denken und dem normativ geprägten Selbstverständnis der Hochschulen unausweichlich war:

Im Unterschied zu Unternehmen der New Economy waren Hochschulen zumeist nicht profit-, sondern gemeinwohlorientiert und keinem Businessplan, sondern einem Curriculum verpflichtet. Diese Andersartigkeit wurde jedoch nicht als etwas, das genuin zur Hochschule gehört, begriffen, sondern eher als lästiger historischer Ballast, den man nun auf dem Weg in die Informationsgesellschaft rasch loswerden müsse.

Innerhalb dieses Spannungsfelds liegt auch Deimanns Antwort nach dem Erbe des E-Learnings: Was bleibt, seien erstaunlich stabile und anpassungsfähige Narrative, nach denen „die empirisch oft nicht haltbaren Vorstellungen zur Flexibilität und Orts- und Zeitunabhängigkeit“, die „zu weniger Kosten und mehr Lernleistung führen sollten“ fortgeführt und auf nachfolgende Innovationen in der Online-Lehre übertragen wurden, ohne dass sich aber in der Organisation der Hochschullehre strukturell etwas geändert habe. Gleichzeitig steht E-Learning auch für eine Normalisierung des Einsatzes von Internettechnologien – die Neuen Medien sind Teil unseres Alltags geworden.

Der MOOC-Hype und der Aufstieg der Bildungsplattformen

Die Dichotomie von Marktanforderungen und einem normativ geleiteten Bildungsdiskurs findet sich, laut Deimann, auch in der Geschichte der MOOCs (Massive Open Online Courses) wieder. So weckte dieses konnektivistische Format, das im Zuge einer globalen Open-Education-Bewegung an Bedeutung gewann, zunächst große Hoffnungen auf eine neue Form des vernetzten Lernens. Diese „sehr anspruchsvolle und damit eigentlich für die Hochschulen passende Lernform” wurde aber in Deutschland nur von einem kleinen Kreis engagierter Menschen wahrgenommen und die in der Öffentlichkeit antizipierte “Revolutionierung der Bildung” angesichts einer „radikalen Öffnung der Hochschulen“ blieb aus. Ein bedeutender Verdienst der xMOOCs, der populäreren Form des Formats, bestand aber in der Eröffnung eines ersten, breiten Diskurses über die Digitalisierung an den Hochschulen: Anders als das E-Learning waren diese bereits viel stärker in die Kultur der Hochschulen integriert. Neben ihrem didaktisch wenig innovativen Format – ein Kurs wird aufgezeichnet und kann abgerufen werden, ohne größe Möglichkeiten der Interaktion – kritisiert Deimann die prägendste Eigenschaft der xMOOCs: ihre Plattformbasiertheit. An die Stelle des Internets, das im Falle der MOOCs als ein „offener digitaler Kulturraum“ begriffen wird, tritt eine von kommerziellen Interessen geleitete digitale Plattform: 

Durch die kommerzielle Vermarktung von Bildungsinhalten stehen die Plattformen im Widerspruch zur Philosophie der Open-Education-Bewegung, wonach Wissen ein freies, kollektives Gut ist […] Auch wurde die Forderung nach Demokratisierung von Bildung konterkariert, da xMOOCs durch ihr besonderes didaktisches Design hauptsächlich Menschen mit hoher akademischer Vorbildung anzogen, während die Masse an sozial schlechter gestellten Lernenden nicht erreicht wurde (Knox 2019).

Datafizierung 

Auf den Pfaden, die E-Learning und MOOCs gebahnt haben, schreitet die Digitalisierung in den 2020er-Jahren weiter voran. Als völlig neue Entwicklung, die gleichzeitig weitreichende Auswirkungen auf die Organisation und das Verständnis von Hochschullehre hat, wertet Deimann die Datafizierung. Mit ihr verbindet er im Wesentlichen drei Aspekte: (1) Generierung/Produktion von digitalen Daten, (2) Auswertung und Verarbeitung digitaler Daten, (3) Verwendung der Daten mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.

Der Einatz von algorithmen-basierten Dateninfrastrukturen ist, so Deimann, mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen alltäglich geworden, besonders betroffen sei aber der Bildungsbereich. Deshalb sei es auch hier wichtig, die konstruierten Narrative, sozialen Imaginationen und ideologischen Aufladungen zu betrachten:

  • Lernprozesse lassen sich mit mehr Daten optimieren (sozial gerechter / inklusiver)
  • digitale Technologien bieten völlig neue Formen der Personalisierung (die der herkömmlichen pädagogischen Praxis weit überlegen sind)
  • datenbasierte Bildungsentscheidungen werden als präzise, rational und wirklichkeitsgetreu wahrgenommen

Doch, so Deimann, in scheinbar neutrale Daten sind immer auch schon bestimmte Wertvorstellungen eingeschrieben. Welche das sind, sei eine „dringend zu diskutierende grundlegende Fragestellung.“ Der Autor mahnt:

Versteht man Hochschulen als Einrichtungen, die sich einem bestimmten Bildungsverständnis verpflichtet haben, dann geht mit der Datafizierung eine fundamentale Transformation dieses Verständnisses einher. Es ist dann nämlich nicht mehr das Individuum mit seiner einzigartigen Persönlichkeit Adressat von Bildungsangeboten, sondern die von einer Person hinterlassenen Datenpunkte und -spuren, die maschinell verarbeitet und kategorisiert werden. Inwieweit dann noch von Bildung die Rede sein sollte, ist eine Frage, die ich an die Leser*innen weitergeben möchte.

Die Quick-and-Dirty-Digitalisierung und Digitalisierung als neue Normalität

Auch wenn sich knapp 90% der Hochschulen auf die durch die Corona-Pandemie notwendig gewordene, kurzfristige Umstellung der Lehre auf einen Onlinebetrieb „gut vorbereitet“ fühlten, so seien die technischen und kulturellen Voraussetzungen tatsächlich weniger günstig gewesen, so Deimann. Zwar gibt es heute an nahezu allen Hochschulen eine IT-Infrastruktur, Rechenzentren, E-Learning-Serviceeinrichtungen sowie vielfältige Beratungs- und Unterstützungsangebote für den Einsatz digitaler Medien in der Lehre, und auch Learning-Management-Systeme sind als Ergänzung von Vorlesung und Seminar alltäglich im Einatz, aber: Werden Vorlesungen und Seminare komplett online durchgeführt, reicht die dafür notwendige Ausstattung – insbesondere im Bereich der Videokonferenzsysteme – nicht aus. Vor allem aber sei es den Universitäten bisher nicht gelungen, ihre kulturellen Grundlagen an die Bedingungen des digitalen Zeitalters anzupassen:

Es scheint weiterhin einen Kern unhinterfragter Vorstellungen und Annahmen darüber zu geben, was höhere Bildung ist, was ihr Sinn und Zweck ist und wie die Hochschulen diese organisieren. Dazu gehört etwa die Überzeugung, dass Bildung zwingend an regelmäßige Präsenz gekoppelt ist. Diese starre Formatierung der Lehre in Bezug auf Ort und Zeit ist eine zentrale Hürde. Auch existieren bislang keine einheitlichen und verbindlichen Weiterbildungsprogramme „Digitale Kompetenzen für die Lehre“, sondern die Qualifizierung ist dem persönlichen Engagement der Hochschullehrer*innen überlassen.

Doch zum Schluss die Good News: Deimann sieht den idealen Moment gekommen, um mit einem Austausch und der Klärungarbeit zu beginnen. Die bisher gemachten Erfahrungen haben gezeigt, dass es sowohl einer langfristigen Planung als auch einer Sensibiliserung für die Kraft der Digitaisierungsmythen bedarf. Ratsam seien deshalb „kleine Schritte, die für die die Mehrheit der Beteiligten machbar sind“ und „die von einer gemeinsamen Vision von Hochschule in der Kultur der Digitalität ausgehen.“ Mithilfe organisatorischer und dienstrechtlicher Änderungen könnte, so Deimanns Schluss, „der Einsatz von E-Learning und digitalen Medien zu einer Selbstverständlichkeit werden und eine neue Normalität in der Hochschullehre begründen.“

 

Den Sammelbandbeitrag von Markus Deimann „Hochschulbildung und Digitalisierung – Entwicklungslinien und Trends für die 2020er-Jahre“ können Sie hier lesen und herunterladen. Zum Dowload des gesamten HFD-Sammelbands geht es hier.

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