Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise

Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise

18.09.20

Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise

Die Corona-Pandemie stellt die Universitäten vor große Herausforderungen. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen hauptsächlich die universitäre Lehre, digitale Lehr- und Lernformate sowie der Zugang zu Materialien und Prüfungen. Doch was genau bedeutet die Krise für die Wissenschaft? Wie sind wissenschaftliches Schreiben, Forschen und der fachliche Austausch mit Kolleg*innen & auf Konferenzen weiter möglich? Wie können junge Wissenschaftler*innen eigentlich digital forschen und promovieren? Diesen Fragen nähern sich Dr. Ruth Weber und Sarah Cichon, indem sie über einige der Hürden, aber auch positive Erfahrungen der letzten Monate im Forschungsverbund, dem DFG-Graduiertenkolleg DynamInt, berichten.

Dieser Beitrag ist zuerst auf dem Blog „Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht“ erschienen. 

Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise

„A pandemic isn’t a writing retreat“

Kern von (rechtswissenschaftlichen) Qualifikationsvorhaben ist die Erstellung eines Textes, welcher wissenschaftlichen Standards genügt. Ein Lockdown und der damit einhergehende Stillstand des öffentlichen Lebens bieten auf den ersten Blick vermeintlich ideale Bedingungen für einen „writing retreat“, einen Rückzugsraum zum konzentrierten wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben. Die Realität widersprach jedoch zum Großteil dieser Idealvorstellung, die zunächst zu Beginn des Lockdowns sowohl von persönlichen Ängsten und Sorgen als auch von eingeschränkten Reisemöglichkeiten geprägt war. Wie in dieser Zeit schreiben?

Mit Nachdruck veranschaulichte dies die französische Schriftstellerin Leila Slimani in ihrem Corona-Tagebuch: „Man müsste nicht schreiben, denn die Realität ist zu groß, zu enorm, zu gegenwärtig. Sie zerfrisst uns von innen, man fühlt sich ihr gegenüber ein bisschen lächerlich mit seinen dummen, hilflosen Worten.“ Genau diese Konfrontation mit großen, existenziellen Fragen mischte sich in die tägliche Arbeit in unserem Graduiertenkolleg. Dabei stellte sich häufig die Frage: Soll ich nun mit meinem eigenen Projekt vorankommen, die allgemeine (wissenschaftliche) Debatte zur Krise verfolgen – oder an ihr sogar teilnehmen? Die Thesen von gestern hatten heute schon keinen Bestand mehr und würden spätestens morgen vom nächsten Blogpost abgelöst. Wie ein Twitternutzer es ausdrückte: „Als die Seuchenkrise dann ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren alle Thesen schon vergriffen.“

Neben mentale Belastungen gesellten sich organisatorische Herausforderungen – angesichts von Digitalisierungsbestrebungen nicht gänzlich neu, aber auf einmal von akuter Brisanz: Zwar ist die rechtswissenschaftliche Forschungsarbeit unabhängiger von ortsgebundenen technischen Mitteln als andere wissenschaftliche Disziplinen, jedoch bilden ein ausgestatteter Arbeitsplatz und – mangels flächendeckender Digitalisierung rechtswissenschaftlicher Literatur – der Zugang zu einer juristischen Fachbibliothek ihre unabdingbaren Grundvoraussetzungen. Insbesondere in Spezialgebieten und im internationalen Bereich ist ein umfassender Digitalzugang allein aufgrund hoher Kosten quasi unmöglich. Dies entfachte Debatten über Bezahlschranken (Paywalls) sowie den freien Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen und sonstigen Ressourcen im Internet (Open Access), der bisher in der (deutschen) Rechtswissenschaft nur selten zur Verfügung gestellt wird.

Wenngleich eine Aufstockung der Digitalangebote seitens der Universitätsbibliothek erfolgte, stellte der Zugang zu diesen über einen VPN-Fernzugriff für am Anfang ihrer Forschung stehende Wissenschaftler*innen eine weitere Hürde dar. Zum produktiven Arbeiten sind zudem eine stabile Internetverbindung sowie für die Forschungsarbeit erforderliche Hard- und Software (darunter auch Zitier- und Literaturverwaltungsprogramme) unabdingbar, zu denen der Zugang nicht flächendeckend gesichert ist. Das wirft Fragen nach Chancengleichheit im Wissenschaftsbetrieb auf.

„I think we need to stop calling it ‚working from home‘ and start calling it ‚living at work’“

Die Forschung vom heimischen Schreibtisch ist von ähnlichen Herausforderungen geprägt wie die Arbeit im Homeoffice außerhalb der Wissenschaft. Zwar arbeiteten Wissenschaftler*innen als Berufstätige, die hauptsächlich kognitive und kreative Tätigkeiten ausüben, im Vergleich zu anderen Berufsgruppen schon vor der Pandemie häufiger zu Hause. So zeigte Brenke auf der Basis deskriptiver Auswertungen des Mikrozensus, dass bereits im Jahr 2011 der Anteil zu Hause arbeitender Personen unter den Lehrer*innen, Psycholog*innen und Wissenschaftler*innen besonders hoch war, während in Bau-, Fertigungs- und Verkaufsberufen kaum zu Hause gearbeitet wurde. Die positiven Effekte des Home Office, etwa im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, aber auch, was die Steigerung von Zufriedenheit und Produktivität angeht, traten allerdings mit der pandemiebedingten Umstellung auf die Arbeit ausschließlich im Home Office in den Hintergrund: Es erfolgte eine zwangsweise Veränderung, die sich von der freiwilligen Entscheidung, teilweise zu Hause zu arbeiten, unterscheidet. Neben Konzentrationsschwierigkeiten und mentalen Belastungen durch die Krise besteht eine ungleich größere Gefahr der „Entgrenzung“ durch die Verwischung von Arbeit- und Privatleben. Die Bezeichnung als idealer „writing retreat“ für alle scheint daher wenig passend zu sein.

Ein Kind springt auf der Couch, daneben sitz eine Frau am Laptop und arbeitet.

Gleichermaßen besorgniserregend ist die Beobachtung, dass „Frauen als Verliererinnen der Corona-Krise“ gelten. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das sich auch in der Wissenschaft zeigt. Publikationen im englischsprachigen Raum weisen bereits jetzt darauf hin, dass im akademischen Bereich eine deutliche Mehrbelastung von Frauen festzustellen ist, die sich etwa in einem geringeren Publikationsoutput äußert. Ähnliche Tendenzen lassen sich in der deutschen Rechtswissenschaft beobachten. Eine kursorische Bestandsaufnahme zeigt, dass etwa in der JZ sowie auf dem Verfassungsblog und JuWissBlog in den ersten Wochen der Pandemie deutlich mehr Männer als Frauen publizierten. Zwar reagierten Universitäten mit Angeboten zur Notbetreuung, jedoch konnten die meisten rein wissenschaftlich Tätigen nicht darauf zurückgreifen. Es scheint dadurch besonders notwendig, Initiativen zur Gleichstellung und Förderung von Frauen auch in der Wissenschaft „pandemiesicher“ zu gestalten, wie es beispielsweise der Verein für Socialpolitik in einem Brief an mehrere Forschungsinstitutionen forderte.

„Ohne Corona (und Skype) hätte ich nie erfahren, dass deutsche Professoren Schlümpfe-Setzkästen und Lavalampen in ihren Wohnungen stehen haben.”

Was bedeutet die Krise für rechtswissenschaftliche Forschungsprojekte? In den ersten Wochen der Pandemie überschlugen sich die Debattenbeiträge in nahezu allen Rechtsgebieten: Die Verfassungsrechtswissenschaft begleitete die Pandemiepolitik mit strengem Blick, Gerichte stellten ihre Arbeit um, neue Zeitschriften und Kommentare wurden gegründet… die Bekämpfung des Virus stellte viele alte Rechtsfragen neu oder eben auch gänzlich neue Rechtsfragen. Für junge Forschende können schnell Zweifel aufkommen, ob die gerade erst entwickelte und für relevant gehaltene Forschungsfrage noch aktuell erscheint. Gleichzeitig hielt einen das interessierte Verfolgen der Ereignisse auf Trab und der Fokus auf die eigenen Fragestellungen geriet ins Wanken. Kolloquien, Vortragsreihen und Workshops als Kern gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit im Graduiertenkolleg wurden schnell auf Videokonferenzen umgestellt. Sehr hilfreich für die digitale Umstellung der Forschungszusammenarbeit waren und sind dabei Leitfäden mit Hinweisen zur Gestaltung von interaktiven Digitalformaten, die etwa vom Hochschulforum Digitalisierung bereitgestellt werden.

Gerade für akademischen Nachwuchs ist es besonders wichtig, sich im Wege des informellen Austauschs mit dem wissenschaftlichen Arbeiten vertraut zu machen sowie neue Impulse zu gewinnen. Onlinekonferenzen und Twitterkanäle können analoge Diskussionsrunden und informelle Flurgespräche, die (auch räumlich) eine dynamischere Interaktion ermöglichen, nicht ersetzen. Gleichzeitig zeigt sich deutlich, dass sich Kommunikations- und Gruppenstrukturen im virtuellen Raum durch die Bindung an technische Möglichkeiten und Kommunikationsformate verändern. Sie können zum einen an jeweilige Bedürfnisse individuell angepasst werden und setzen zum anderen neue Regeln für die Interaktion innerhalb der Gruppe. So führte etwa die digital leicht einzubauende rotierende Moderation durch Promovierende sowie die gleichberechtigte Nutzung des Chatkanals zur Wortmeldung und für kurze Zwischenfragen zu einem Abbau von Hierarchien.

Digitale Veranstaltungsformate bieten den evidenten Vorteil örtlicher Flexibilität sowie einer kurzfristigeren Teilnahme. So wurden auch die Teilnehmer*innenzahlen internationaler und exklusiver Konferenzen erhöht; hohe Kosten und strenge Teilnahmebeschränkungen standen einer Teilnahme Promovierender nicht mehr im Weg. Dies begünstigte einen Hierarchieabbau und neuen Input für die eigenen Forschungsprojekte. Auch innerhalb unseres Graduiertenkollegs entstanden kurzfristig einberufene Initiativen wie Vorträge, Besprechungsrunden und kleine Konferenzen zu aktuellen rechtlichen Themen. Die digitalen Strukturen und der Wegfall von Hürden, wie etwa der Raumorganisation, förderten Eigeninitiative und Flexibilität.

Eine Person sitz auf einer Couch und arbeitet von Zuhause.

Auch die Rahmenbedingungen für Forschungs- und Promotionsprojekte haben sich gewandelt. DFG und DAAD verlautbarten schnell, coronabedingte Verzögerungen zu berücksichtigen. Von besonderem Interesse ist für die Forschung, inwieweit der Arbeitsplatz und Forschungsstandort Universität weiterhin hauptsächlich digital bleibt. Einige, wie Eva Inés Obergfell, HU-Vizepräsidentin für Lehre und Studium, mahnen zu Vorsicht, andere befürworten mit einiger Vehemenz, Präsenzveranstaltungen wieder stattfinden zu lassen. „Ohne die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden gibt es keine Universität“, sagte der Dekan der Juristischen Fakultät, Martin Heger.

Die Frage, wie auch wir als Graduiertenkolleg mit dieser zukünftigen Unsicherheit umgehen werden, stellt sich nach wie vor: Kann Forschung ohne Interaktion in der analogen Welt funktionieren? Was lernen wir aus der Krise in Bezug auf erfolgreiche wissenschaftliche Kommunikation? Wie können die Flexibilität digitaler Veranstaltungen beibehalten und gleichzeitig die unverzichtbaren persönlichen Kontakte wiederbelebt werden? Entscheidend erscheint es uns zunächst, dass ein Diskurs darüber stattfindet, wo – wenn nicht analog möglich – neue wissenschaftliche Kommunikationsräume entstehen, und ob und wie diese funktionieren, um eine gelungene Forschungszusammenarbeit aufrechtzuerhalten und nachhaltig zu sichern.

 

Zitiervorschlag: Sarah Cichon/Ruth Weber, Digital forschen und promovieren in Zeiten der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 114/2020 v. 17.09.2020, https://www.juwiss.de/114-2020/

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