Die Zukunft der Universität als Zukunft der Schrift – wie Virtual Reality tradierte Institutionen möglicherweise radikal in Frage stellt.

Die Zukunft der Universität als Zukunft der Schrift – wie Virtual Reality tradierte Institutionen möglicherweise radikal in Frage stellt.

08.12.16

Die Vergangenheit? Bild: [https://unsplash.com/search/write?photo=UGQoo2nznz8 João Silas]

Nach drei Jahren der intensiven Arbeit gab der vorläufige Abschlusskongress des “Hochschulforums Digitalisierung” eine Gelegenheit, innezuhalten und die zahlreichen formulierten Thesen aus den Expertengruppen auf mögliche übergreifende Trends hin zu beobachten.

Der Abschlussbericht des Hochschulforums, vorgestellt in der letzten Woche in Berlin unter Anwesenheit der Bundesforschungsministerin, formuliert hierzu, dass Virtual Reality (in Folge VR) “Lernenden neue Perspektiven” ermöglicht und “kontextuelle Lernerlebnisse” herbeigeführt werden können. Der Bericht und gleichermaßen die Diskussionen auf den Panels und in den Gängen im Allianz Forum betonen übereinstimmend den Nutzen in der Lehre der ingenieur- und naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Virtuelle Realität? Bild: [https://unsplash.com/photos/uf4oyaimWwg Jamison McAndie]Die Autoren dieses Beitrags schließen sich dieser Einschätzung an und möchten – als Variante einer kritischen Zusammenfassung – zugleich dazu ermutigen, die Möglichkeiten der neuen Technologie, wie auch der damit möglicherweise verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen, noch wesentlich radikaler und um die Grundlagen der Universität, die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, ergänzt zu denken. Grundlage dieses Appells sind Forschungen, wie sie seit Anfang 2013 von der Forschungsgruppe gamelab.berlin der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt werden. Aufgrund des disruptiven Potentials der VR-Technologie wird hier in Anlehnung an den Begriff der eNatives von der Generation der V-Natives gesprochen. Die Forschungen geben Grund zu der Annahme, dass der Einzug dieser Technologie in unsere Lebensrealität, sei es als Virtual oder Augmented Reality, mittel- bis langfristig einen grundlegenden Wandel auch der Universität zur Folge haben könnte. Diese These soll in Folge anhand der Vorstellung des Prototypen “Reading Revisited” exemplarisch begründet werden, wie er zur Zeit am gamelab.berlin in Kooperation mit dem Merve Verlag entwickelt wird. Wie der Name des Projekts bereits andeutet, wird hier die traditionelle Kulturtechnik des Lesens mit der neuen Technologie der VR verbunden. Die forschungsleitende Fragestellung lautet hier: Wie könnte die Zukunft des Lesens für die V-Natives aussehen?  

Zuvor allerdings macht es Sinn, einen kleinen Exkurs in die Geschichte und Theorie der Kulturtechnik der Schrift zu unternehmen. Denn häufig kann die historische Rückschau helfen, zukünftige Entwicklungen besser einzuschätzen. Dabei wird deutlich, dass die Universität der V-Natives überraschende Ähnlichkeit mit jener Akademie haben könnte, die allen nachfolgenden Institutionen ihren Namen gab: Platons Akademie.

Jahrhunderte nach der Einführung der Schrift in die Universitäten den Vorgang des Lesens in die Virtuelle Realität, beispielsweise in die Head Mounted Displays, zu übertragen, mutet dabei zunächst erst einmal seltsam an: Lesen, das ist doch das Decodieren eines zweidimensionalen Zeichensystems, im Fall des deutschen Alphabets handelt es sich dabei um 30 Zeichen: 26 Buchstaben aus dem lateinischen Alphabet plus die drei Umlaute Ä, Ö, Ü und das ß, die allesamt von links nach rechts gelesen werden. Wir lesen Texte auf Papier oder eReadern, in Zeitungen oder an Computerbildschirmen. Das Lesen von Text scheint an zwei Dimensionen gebunden zu sein: Buchstaben reihen sich auf Oberflächen aneinander, der Blick richtet sich durchschnittlich 0,3 Sekunden auf einen Fixationspunkt im Text und springt dann, in einer ruckhaften Bewegung – der sogenannten Sakkade – zum nächsten Abschnitt. Was soll ein dreidimensionaler virtueller Raum zu dieser bereits effektiven Technik hinzufügen können?  Und bedroht die Bildlichkeit der Virtual Reality nicht sogar das Leseerlebnis? Bild und Text gelten gemeinhin ja als als medientechnische Konkurrenten, die sich gegenseitig verdrängen?

Bereits eine kurze etymologische Herleitung macht jedoch deutlich, dass der Vorgang des Lesens über die verkürzte Darstellung, Lesen beschränke sich auf das Decodieren zweidimensionaler Zeichensysteme, hinausgeht. Lesen stammt aus dem lateinischen „legere“  was „sammeln“ und  „auswählen“ bedeutet. Das Lesen einer Fährte durch einen Jäger, aber auch die Weinlese sind Vorgänge, die den Begriff des Lesens bereits um die dritte Dimension erweitern.

Schrift Bild: [https://unsplash.com/photos/zkWgCpXgiz0 Anirban Chatterjee]Friedrich Kittler berichtet in seiner Vorlesung über „Optische Medien“ von einer historischen Konstellationen,  in der die Opposition Schriftkultur versus Bildertechnik ins Wanken gerät. Sein Beispiel stammt aus der Zeit der Reformation. Martin Luther setzte im 16. Jahrhundert der mittelalterlichen Bild- und Reliquienverehrung sein „sola scriptura-sola fidei“ entgegen. An die Stelle der Verehrung von Heiligenbildern forderte er den Rückbezug auf die Schrift. Kittler: „Allein aus der Schrift (…) soll jedermann laut Luther selig werden können.“ Die Gegenreformation reagierte laut Kittler mit keinem Geringeren als dem Gründer des Jesuitenordens, Ignacio de Loyola. Dieser hatte nach einer schweren Kriegsverletzung begonnen kirchliche Literatur, vor allem Heiligenlegenden zu lesen, wurde zum Glauben bekehrt und „erfand“ das Format der Exerzitien. Diese Übungen bestanden darin, sich alles Gelesene  „so intensiv zu vergegenwärtigen, bis es aufhört Buch oder Text zu sein und stattdessen anfing, die fünf Sinne selber zu überwältigen.“ Aus dem Text werden durch Vergegenwärtigung Bilder herausgetrieben. Die Bildmacht dieser Imaginationstechnik gründete zwar auf Lektüre von Text, resultierte aber in einem psychedelischen Illusionstheater und setzte das dagegen geradezu asketische Medium, nämlich die protestantische-schwarzweiße Schriftlichkeit, wiederum unter Druck – schließlich stand im Hintergrund dieses Medienkonflikts der Kampf um die Seelen der Gläubigen. Wer glaubt wem? Und wer glaubt was?  Diese Psychotechnik, die der Gläubige nach dem Vorbild Loyolas einsam vollzog,  bereitete laut Kittler in Folge die Verbreitung der bildgebenden Technologie der Laterna magica vor. Mithilfe dieses Apparats wurden die einsamen Halluzinationen des Gründers des Jesuitenordens –  nun hardwaregestützt-in Folge massentauglich.

Diese medienhistorische Analyse Kittlers ist deshalb für die Entwicklung des Prototypen “Reading Revisited”  so interessant, weil sie einerseits den Gegensatz zwischen Schrift und Bild zu bestärken scheint:  Auf der Basis der Schrift entwickelten die gegenreformatorischen Kräfte Technologien der Bebilderung, um die medientechnische Wirksamkeit der reinen Schrift zu überbieten. Andererseits leuchten in diesem medientechnischen Konflikt Möglichkeiten auf. Wenn man davon ausgeht, dass der Lesevorgang in VR  realisierbar ist, also das Decodieren eines alphabetischen Zeichencodes, dann könnte, ein entsprechendes Interface vorausgesetzt, in Zukunft jeder zu einem Ignatius de Loyola werden. Allerdings mit dem Unterschied, dass diese, dann  modernen Exerzitien, sichtbare und damit kommunizierbare Repräsentationen erzeugen würden. Die virtuelle Welt könnte, inspiriert von  traditionellen Textlektüren in VR, modelliert werden zu persönlichen Erinnerungsräumen. Der Nutzer könnte Zitate aus der Schrift herausnehmen, diese in der Landschaft platzieren und mit anderen Inhalten verknüpfen. Topographische Beziehungen zwischen Wissensobjekten jeder Art würden Zusammenhänge eventuell intuitiver begreifbar machen.

Auch hier ist ein Verweis auf historische Vorgänger angebracht: Das Gedächtnistheater, das Giulio Camillo in seinem Werk „Ideal del theatro“ aus dem 16 Jhrd. beschreibt, ist ein begehbares Speichermedium, das sich in seiner Bauform noch am antiken Theater orientiert. Allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme: Auf den Rängen sind statt der Zuschauer Bilder, Texte und Artefakte in einer Weise angeordnet, die ein intuitives Erfassen ihrer inhärenten Ordnung ermöglichen sollte. Auf der Bühne dagegen befindet sich der Zuschauer. Die traditionellen Blickrichtungen sind also in ihr Gegenteil verkehrt: Der Zuschauer schaut ins Publikum, das Publikum aber ist in Rängen und Sitzreihen geordnetes Wissen. Der Nutzer dieses Speichermediums steht auf der Bühne, wie es zuvor nur den Schauspielern gewährt war, zugleich ist er Regisseur, der über die Wissensarchitektur entscheiden kann.  Das Lesen in VR und das Modellieren individueller Gedächtnistheater ist heute technologisch machbar und könnte die Kunst der antiken ars memoria, also die Erinnerungskunst, um Funktionalitäten erweitern, die für die Netzgesellschaft als typisch gelten.

Die Vergangenheit? Bild: [https://unsplash.com/search/write?photo=UGQoo2nznz8 João Silas]Zunächst ist eine Textrezeption denkbar, die an die Stelle konventioneller Ordnungskategorien (Autor, Buch, Zeitalter) personalisierte Textcollagen setzt. Aus dem unüberschaubaren Korpus der zur Verfügung stehenden Texte würden durch Daten- und Profilanalyse nur jene zur Lektüre vorgeschlagen, die für den Lesenden aktuell relevant sind. Kurze Textsnippets erscheinen verteilt am virtuellen Himmel und lassen ungeahnte Zusammenhänge entstehen.  Dafür braucht es aber noch nicht zwingend VR. V-Natives werden darüber hinaus möglicherweise in Szenerien lesen, die sich je nach Lektüreinhalt verändern. Wir alle wissen, dass der Ort der Textrezeption Einfluss hat auf die Qualität dieses Vorgangs. Lesen im Café ist ein anderer Prozess als Lesen in einer Bibliothek. In VR kann jeder Raum zum Leseraum werden. V-Natives werden Nietzsche im Arbeitszimmer Goethes lesen und Rosamunde Pilcher an irischen Steilküsten. Verändern wird sich auch die Form des Erinnerns: Heute markieren wir mit Textmarkern jene Stellen, die wir uns merken wollen. Die V-Natives werden mit ihren Händen interessante Textblöcke aus der Landschaft herausgreifen. Diese dreidimensionalen Textobjekte können dann in Größe, Form und Farbe verändert, annotiert, mit anderen verbunden und schließlich in unbegrenzten Landschaften zu individuellen Erinnerungsräumen arrangiert werden. In VR kann sich jeder seine persönliche Platonhöhle bauen! Diese individuellen Gedächtnistheater könnten gemeinsam mit anderen begangen und kommentiert werden. Zwei oder mehrere Gedächtnistheater könnten ineinander überblendet werden, um Übereinstimmungen und Differenzen zu analysieren. Hier wird das disruptive Potential für Universitäten am deutlichsten: Seminarteilnehmer könnten sich gegenseitig in ihre Rezeptions- und Erinnerungsräume einladen und darin diskutierend spazierengehen, was nicht weniger als eine echte Renaissance der platonischen Akademie bedeuten würde. Mit dem Unterschied der heute möglichen, völligen Unabhängigkeit von realen Orten: Athen ist in Zukunft überall.  Und natürlich könnten diese modernen Gedächtnistheater kollaborativ erstellt werden und zu kollektiv kuratierten Gedächtnistopographien heranwachsen. Die genannten Möglichkeiten werden zur Zeit in dem Projekt “Reading Revisited” entwickelt und vertestet.

Abschließend muss hervorgehoben werden, dass ein derartiger Umgang mit Schrift die von Anfang an in dieser Kulturtechnik liegenden Möglichkeiten – nicht nur, aber insbesondere im Hinblick auf die kontextuellen Lernerlebnisse, die das Hochschulforum Digitalisierung in seinem Abschlussbericht fordert – radikalisiert. Die Berliner Philosophin Sybille Krämer wendet sich in ihrem Aufsatz „Operationsraum Schrift“ gegen die auf Aristoteles zurückgehende Auffassung, die Funktion der Schrift bestehe vor allem in der Fixierung sprachlicher Äußerungen, Schrift sei also ein Sekundärsystem. Ein laut Krämer damit einhergehendes Missverständnis bestehe in der Linearität, die der Schrift zumeist noch immer unterstellt würde. Schrift sei aber  ihrer Ansicht nach adäquater mit Begriffen des Raumes zu beschreiben: „Texte sind in Zonen eingeteilte Flächen: Bedeutungsunterschiede gehen hervor aus den unterschiedlichen Stellen, an denen ,etwas steht‘. Die räumliche Anordnung des Textes wird zur Verkörperung seiner gedanklichen Ordnung.“ Schriftbildlichkeit ist der Begriff, den Krämer für dieses Hybridwesen vorschlägt, über das sie ausführt: „Schriften bilden nicht einfach ,Texte‘, sondern zuerst einmal eine ,Tex- tur‘: ein Gewebe von räumlichen Relationen.“ Diese Relationen würden bei unserem Vorhaben, Lesen in VR zu transponieren, wie bereits erwähnt eine weitere Möglichkeit erhalten. Schriftbilder würden aus ihrer Zweidimensionalität befreit und könnten sich im Raum frei anordnen. Ein weiterer Aspekt, den Krämer als bislang unterschätzte Dimension der Schrift andeutet, ist die Funktion der Schrift als „Visualisierung des Kognitiven. (…) Die Materialität der Schrift verleiht unsichtbaren ,Wissensdingen‘ einen Objektstatus, indem es diesen zu einer Art von Körperlichkeit verhilft: So kann mit epistemischen Gegenständen auch handgreiflich umgegangen werden.“ Schrift ist laut Krämer Raumwerdung von Sprache und ermöglicht überhaupt erst die Unterscheidung von Sprache und Sprechen, da man  erst im Schriftbild die Sprache als stabilisierte Anordnung räumlicher Einheiten erkennt. Der von Krämer zitierte Jaques Derrida mutmaßte sogar, dass die Schrift der Sprache vorausginge. Die phonetische Schrift sei laut Krämer: „Geburtshelferin der Sprache. Sprache hier aufgefasst als ein System, von dem wir im Sprechen Gebrauch machen.“ Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren, ob und wenn ja welche neuen Möglichkeiten der Kognition durch die neuen Möglichkeiten der Visualisierung auch, aber nicht nur von Schriftbildern, in Zukunft möglich werden und welche neue Formen der Sprache dies eventuell ermöglichen wird. Die Autoren sind aber der Überzeugung, dass Universitäten und insbesondere die universitäre Lehre den geeigneten organisationalen Rahmen bieten, um diese neuen Möglichkeiten aktiv zu gestalten- gemeinsam mit der Industrie und StartUps, die die zugrunde liegenden Technologien entwickeln und sich beispielsweise im Hochschulforum Digitalisierung vernetzten, aber insbesondere auch mit den Studierenden, die gerade erst beginnen, die Universitäten als “V-Natives” zu betreten.

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