Das Sommersemester muss ein „Nicht-Semester“ werden – Ein offener Brief aus Forschung und Lehre

Das Sommersemester muss ein „Nicht-Semester“ werden – Ein offener Brief aus Forschung und Lehre

01.04.20

Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf die Empirische Realität-

Selten hat eine Petition an den Hochschulen für so viel Wirbel gesorgt wie die Forderung nach einem sogenannten „Nicht-Semester“. Im Kontext von COVID-19 stellt sich die Frage, wie das Sommersemester 2020 an den Hochschulen in Anbetracht einer globalen Gesundheitskrise gelingen kann. Im Schnellverfahren wird die Präsenzlehre in digitale Formate umgewandelt, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Wir haben mit den Initiator*innen der Petition, Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU München), Prof. Dr. Andrea Geier (Universität Trier) & Prof. Dr. Ruth Mayer (Leibniz Universität Hannover) über ihre konreten Forderungen gesprochen, denen sich mittlerweile über 9397 Hochschulangehörige angeschlossen haben [Stand 31.03.2020].

Leere Hörsäle, volle virtuelle Räume. Das Sommersemester 2020 Eine Debatte ist darüber entbrannt, ob das Nicht-Semester die passende Bezeichnung für solidarische Vereinbarungen im Umgang mit COVID-19 an den Hochschulen für das Sommersemester 2020 ist. Werden damit die Anstrengungen für ein vollwertiges Sommersemester abgewertet? Ergeben sich durch ein Nicht-Semester zusätzliche Probleme, weil die Bildungskette unterbrochen werden könnte? Prof. Dr. Paula Irene Villa geht auf die Kritik in ihrem Twitter-Thread ein. In diesem Interview erklären zwei der Initiator*innen, woher der Begriff Nicht-Semester kommt und welche Forderungen daran geknüpft sind.

Wie Jan-Martin Wiarda versöhnlich schreibt, geht es bei der Petition um ein neues Miteinander an den Hochschulen: „Leistungspunkte: ja. Existentielle Ängste: nein.“ Dafür könnte auch von einem Solidarsemester, Kreativsemester [Berliner Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach] oder Optionssemester [DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee] gesprochen werden. Die Initiator*innen schreiben in ihrem offenen Brief: „Studierende sollen selbstverständlich die Möglichkeit haben, Leistungspunkte zu erwerben, Prüfungen zu absolvieren und Abschlussarbeiten zu schreiben. Doch: „Nur wenn das Semester nicht (regulär) zählt, ist gesichert, dass denjenigen, die die schlechtesten Voraussetzungen haben oder im Verlauf des Sommers neuen Belastungen ausgesetzt sein werden, keine Nachteile entstehen.“ Lesen Sie auch gerne die Reaktionen aus der HFD-Community.

Interview mit Prof. Dr. Andrea Geier & Prof. Dr. Paula-Irene Villa zur Forderung eines Nicht-Semesters

Hochschulforum Digitalisierung: Wie kam es dazu, dass Sie die Forderung eines Nicht-Semesters im Kontext der Coronakrise aufstellten? Was meinen Sie damit genau?

Geier & Villa: Angesichts der allmählichen Entwicklung der Krise nahm die Unsicherheit, was das Sommersemester 2020 betrifft, immer mehr zu. Die Situation war lange offen und unklar, und genau deshalb gilt es jetzt, das unmittelbar bevorstehende bzw. teilweise schon begonnene Semester aus einer möglichst realistischen und nachhaltigen Perspektive zu gestalten. Obwohl mittlerweile Krisenszenarien vorliegen, reagieren politische und universitäre Entscheider*innen vielfach immer noch so, als wäre ein ‚einfach alles online umstellen‘ hinreichend: Mit etwas Flexibilität, Einsatzbereitschaft und viel gutem Willen von allen Beteiligten quasi Normalbetrieb. Das scheint uns unmöglich und auch nicht sinnvoll. Mit unserem Schreiben und der Aktion Nicht-Semester, die wir – Paula-Irene Villa Braslavsky, Andrea Geier und Ruth Mayer – initiiert haben, wollen wir den Impuls geben, die Krisensituation realistischer und fairer zu gestalten. Wir haben Aspekte und Probleme benannt, die es systematisch zu bedenken gilt, wenn die Uni und der Lehrbetrieb sinnvoll laufen soll. Wir setzen uns dafür ein, die Hochschulen, Akademien und Universitäten von den echten Verhältnissen her zu sehen und zu gestalten, nicht von gut gemeinten, aber wenig realistischen Parolen. Studierende, Lehrende und Mitarbeiter*innen der Universitätsverwaltung sind aktuell durch multiple Care-Tätigkeiten zusätzlich gefordert.

Mit Nicht-Semester meinen wir ausdrücklich nicht, dass keine Lehre, keine Betreuung, keine Prüfungen, keine Abschlüsse stattfinden sollen! Das Wording ist zugegebenermaßen auf den ersten Blick irritierend: Wir haben es vom HRK-Vizepräsident Prof. Dr. Ulrich Radtke übernommen, der dies in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zum ersten Mal ins Gespräch brachte: Nicht-Semester meint, dass denjenigen, die aus verschiedensten Gründen den Anforderungen eines normalen, aber Online-Semester nicht gerecht werden können, keinerlei Nachteile entstehen dürfen – und sie jeweils nicht extra aufwändige Begründungen, Anträge usw. stellen müssen. Das betrifft Lehrende und Studierende. Es darf nicht vergessen werden, dass über 85% der in der Wissenschaft beschäftigen Lehrenden/Forschenden sehr prekär arbeiten, mit kurzen Verträgen, zum Teil sehr hohen Lehrdeputaten und starkem Publikationsdruck. Es darf nicht vergessen werden, dass wir alle aufgrund der aktuellen Situation nicht nur psychisch und u.U. physisch angespannt sind, sondern vielfach massive Care-Aufgaben übernehmen müssen, weil z.B. Kinder zuhause beschult werden. Es darf auch nicht vergessen werden, wie sehr und wie viele Studierende mit BaföG, Erwerbsarbeit, Care-Aufgaben usw. belastet sind. Viele zudem auch mit Visa- und Aufenthaltsfragen. Hinzu kommen weitere Probleme, etwa die Überlastung der technischen Infrastruktur oder juristische Unklarheiten bei der Nutzung von Software z.B. bei Prüfungen. Und, ganz wichtig, Online-Lehre ist vielfach super, auch gut eingeführt, sinnvoll, erprobt. Aber das gilt nicht flächendeckend für alle gleichermaßen. Was ist mit Praktika, mit Labor- oder Werkstattarbeit, mit diskussionsbasierten Formaten? Was ist mit empirischer Forschung, Vermessungs- oder archäologischer Arbeit, klinischen Tätigkeiten, usw.? Nicht sämtliche Lehre ist ‚mal eben‘ online machbar.

Das alles zusammen bedeutet, dass wir eine andere Logik brauchen, von der aus wir das Ausnahmesemester denken. Nicht ausgehend von den Professor*innen, die im Zweifel genügend Ressourcen mobilisieren können und so beste Bedingungen haben, um kreativ werden zu können, sondern von denen, die am meisten belastet sein werden. Unsere Position ist: Das Semester soll nicht angerechnet werden hinsichtlich BAföG, Regelstudienzeit oder Abschluss, wenn keine ausreichenden Studienleistungen erbracht werden können. Dabei soll umgekehrt aber niemand am Studium oder am Abschluss gehindert werden, natürlich nicht.

Hochschulforum Digitalisierung: Kann ein virtuelles Hochschulsemester nicht auch als Chance begriffen werden? Online-Lehre kann die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Studium vereinfachen, Barrieren können abgebaut werden und introvertierte Menschen besser eingebunden?

Geier & Villa: Das klingt sehr gut, sehr positiv! Die Krise als Chance, ‚Verpasstes‘ aufzuholen. Das hören wir gerade häufig. Und das stimmt zum Teil auch. Der Haken an der Sache ist allerdings die Pauschalisierung. Mehr digitale Formate, um die Universität barrierefreier und inklusiver zu machen, auch um schlichtweg die mediale Entwicklung in die Uni systematisch einzuholen, das ist alles wünschenswert. Nur ist das überhaupt nicht die Situation, in der wir uns befinden. Denn es muss dabei selbstverständlich um gute Studienangebote gehen. Momentan wird in der Krise ganz pragmatisch alles Mögliche und eigentlich Unmögliche auf Online-Learning umgestellt, damit irgendwie Studierbarkeit gewährleistet werden kann. Die Leitlinien sind nicht didaktisch sinnvolle Ergänzungen von Präsenzlehre oder spezielle Angebote, die mit Blick auf die Funktion im Studienangebot entwickelt würden. Wir haben es stattdessen mit einem allumfassenden Notbetrieb zu tun. Positive Effekte könnten sein, dass an vielen Universitäten die digitale Infrastruktur verbessert wird: Von größeren Serverkapazitäten bis hin zu der Frage, wie groß das Email-Postfach sein darf.

Aber machen wir uns nichts vor: 90% dessen, was nun Hals über Kopf mit enormem persönlichem Aufwand von den Lehrenden für den Notbetrieb geplant wird, wird nicht nachhaltig sein. Und der eigentlich springende Punkt daran ist: Das muss es auch nicht. Denn Präsenzlehre hat einen hohen Wert in sehr vielen Fächern. Wer so tut, als hätte Deutschland insgesamt ‚die digitale Lehre verschlafen‘, zeigt nur, dass er keinerlei Interesse an fachspezifischen und an didaktischen Überlegungen hat und auch die einschlägige Forschung nicht kennt. Es wird nicht gesehen, dass es ganz viel Kreativität und Vielfalt in digitaler Lehre gibt, die aber ergänzend als Blended-Learning-Angebote entwickelt werden. Und es ist kein Geheimnis, dass Studierende an Fernuniversitäten die freie Zeiteinteilung schätzen, aber den direkten Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden jenseits des Digitalen oft vermissen und daher gerade Präsenzphasen sehr zu schätzen wissen.

Wir sind unbedingt dafür, dass Lehrende in der Entwicklung von Online-Lehre unterstützt werden! Nur müssen dafür Konzepte erarbeitet werden, das braucht Zeit, Wissen und auch Geld, nennen wir es mal zusammenfassend: Ressourcen. Wenn man ganz realistisch anmerkt, dass bei vielen die jetzt notwendigen Kompetenzen für Online-Lehre nicht da sind, wird so getan, als sei das ein grundsätzliches Problem oder gar Verweigerung gegenüber der Digitalisierung. Dabei geht es nur darum zu sagen: Die Programme, die jetzt für die Komplettumstellung von Präsenz- auf Online-Lehre von der eigenen Universität empfohlen werden, weil sie lizenziert sind und damit den Lehrenden rechtliche Sicherheit bieten, sind einfach nicht unbedingt diejenigen, mit denen Wissenschaftler*innen selbstverständlich zum Beispiel in Projekten oder bei Konferenzen umgehen. Außerdem gibt es ganz viel digitale Lehre, die von vornherein als Ergänzung konzipiert ist, und deshalb auch nun nur in begrenztem Maße hilfreich ist.

Es ist geradezu ärgerlich in der Debatte, wenn Lehrende nun zu mehr ‚Kreativität‘ aufgefordert werden. Denn damit wird nicht nur verleugnet, dass es strukturelle Probleme gibt, die nicht in der Verantwortung Einzelner liegen. Es wird auch die längst vorhandene Kreativität im Digitalen übersehen. Um das anschaulich zu machen: Letztes Jahr war ich (Andrea Geier) Teil einer Gruppe von Literaturwissenschaftler*innen, die unter dem Titel #RelevanteLiteraturwissenschaft Seminare an den Universitäten Bonn, Greifswald, Leipzig, Paderborn, Wien und Trier abgehalten und diese kontinuierlich auf Twitter begleitet haben. Das war ein großartiges digitales kollaboratives Projekt, dem ein Semester Planungsphase vorausging. Es hat auf bestmögliche Weise Austausch unter Lehrenden und Studierenden vor Ort, wie auch universitätsübergreifend und vor den Augen und mit einer interessierten Öffentlichkeit ermöglicht. Und hat dabei Präsenzlehre mit asynchronem Lehren und Lernen verbunden. Das war ein innovatives Projekt in der digitalen Lehre, das aber so nun gerade nicht ohne gravierende Qualitätsverluste komplett in den digitalen Raum oder in Online-Lehre übertragen werden könnte.

Deshalb wäre es sinnvoller, wir würden erstens nicht so tun, als sei nun in Sachen Digitalisierung etwas aufzuholen, weil das suggeriert, dass all das, was wir in diesem Sommersemester tun, immer schon grundsätzlich wünschenswert gewesen wäre. Und zweitens sollten wir von der Idee des Abenteuers und des Durchhaltens auf das Ermöglichen umstellen. Die Politik und die Universitäten sollten jetzt die Rahmenbedingungen schaffen, damit die Lehrenden die ungeplanten Aufgaben bestmöglich unter den gegebenen Bedingungen bewältigen können. Wer denkt, es ginge dabei nur ums Ärmelhochkrempeln, geht offensichtlich ausschließlich von den eigenen Privilegien aus. Tatsächlich sind die Aufgaben riesig: Lehrende sind aufgefordert, innerhalb von 3-4 Wochen bei geschlossenen Bibliotheken, begrenztem Zugriff auf eigenes Material – einige Universitäten sind geschlossen bzw. sollen möglichst nicht betreten werden – und also mit den vorhandenen heimischen Ressourcen ihre Veranstaltungskonzepte komplett umzuarbeiten. Und zwar nicht nur für ein oder zwei, sondern bei Hochdeputatsstellen durchschnittlich acht Veranstaltungen! Vieles wird trotzdem gut oder eben bestmöglich gelingen, da sind wir sicher. Und natürlich wird es auch Erfolgserlebnisse geben, und viele Lehrende werden Tools und Features kennenlernen, mit denen sie vorher nicht vertraut waren. Sie können sehen, was sie davon ggf. in ihre zukünftige Lehre übernehmen wollen. Aber dann als in spezifische Lehr-Lern-Situationen sinnvoll integrierte Elemente und nicht als Notbehelf unter extremem Zeitdruck in einer Pandemie-Krisensituation mit derzeit noch gar nicht absehbaren weiteren Belastungen.

Das Nichtsemester beinhaltet den Krisenmodus als Ausnahmezustand zu verstehen.

Außerdem kann auch vieles gar nicht umgestellt werden wie z.B. Laborarbeiten, Exkursionen, Praxisseminare mit viel präsentischer Interaktion etc. –, für andere Angebote wird nur ein Teil der Studierenden die Voraussetzungen haben: Sowohl zeitlich, weil sie mit Care-Arbeit befasst sind, weil sie auf Grund der Krise ihre üblichen Beschäftigungsverhältnisse verloren haben und nun in neuen Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, aber auch in Bezug auf die technische Ausstattung. Die Lehrangebote dürfen nicht auf perfektes, schnelles W-Lan und die schicksten Tools ausgerichtet sein. An einigen Universitäten kennen die Lehrenden zumindest ihre Studierenden und konnten sie ggf. vor der Umstellung von Präsenz- auf Online-Lehre noch nach ihrer Ausstattung fragen. In den meisten Fällen fangen nun aber im Sommer Veranstaltungen online an, ohne dass die Voraussetzungen der Teilnahme geklärt wären. Ebenso wenig wie der größte Teil der Lehrenden Scanner zu Hause haben dürfte, um nun massenweise Material auf die Lernplattformen hochzuladen – weiterhin unter Beachtung der Regelungen des Urheberrechts –, haben alle Studierenden Computer mit Webcam und schnelles Internet. Sie können ja nicht in ein Café gehen und schnell mal dort ins Internet, um eine Vorlesung anzuschauen. Viele werden ihre Aufgaben mit dem Handy lösen müssen.

All denen, die gerade jubeln, dass hier eine große Chance für die Digitalisierung liege, sei gesagt: Treibt die Digitalisierung in guten Zeiten gerne voran, und wir sind wie viele andere wirklich gerne mit dabei, aber bitte mit Blick auf Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit und mit entsprechenden Ressourcen. Und nicht auf dem Rücken der am meisten belasteten Personengruppen.

Hochschulforum Digitalisierung: Ihr offener Brief stößt in der Hochschulwelt auf große Resonanz, über tausend Unterschriften konnten Sie innerhalb weniger Stunden für Ihre Forderung eines Nicht-Semesters generieren. Die Presse berichtete [1] [2] [3] [4]. Wieso ist der Zuspruch Ihrer Meinung nach so groß?

Geier & Villa: Dass insgesamt über das erste Wochenende so viele Wissenschaftler*innen erstunterzeichnet haben, zeigte uns, dass die Probleme, die wir benannt haben, in der politischen und universitären Krisenkommunikation bislang entweder gar nicht oder nur in geringem Umfang angesprochen worden waren. Mittlerweile sind es innerhalb von acht Tagen mehr als 7300 Unterstützer*innen. Ich denke, das ist ein starkes Signal dafür, dass viele Wissenschaftler*innen von den Entscheidungsträger*innen erwarten, dass sie in der derzeitigen Krisensituation verantwortlich handeln. Dass sie die Handlungsmöglichkeiten, die sie haben, im Bewusstsein der Strukturen, in denen geforscht, gelehrt und gelernt wird, auch tatsächlich nutzen, um den Raum der Universität möglichst realistisch, dabei solidarisch und fair zu gestalten. Wir haben seit Langem eine kritische Diskussion über die Beschäftigungsverhältnisse an den Hochschulen. Das ist eines der zentralen Elemente, die nun mit einbezogen werden müssen in die Diskussion. Die große Unterstützung zeigt, dass es ein Bewusstsein für die Strukturen des Arbeitens, des Lehrens und Lernens gibt. Gerade in Krisensituationen ist es nun nicht mit einem bloßen Appell an die Leistungsfähigkeit Einzelner getan. Gerade weil die Lehrenden unter den gegebenen Bedingungen Lehre ermöglichen wollen, haben sie sich am Nicht-Semester beteiligt. Übrigens gerade auch Personen, die viel Erfahrung in digitaler Lehre besitzen, die einschätzen können, was die derzeitige notfallmäßige Umstellung bedeutet, und solidarisch mit den Kolleg*innen sind – im Wissen und in der berechtigten Erwartung, dass alle ihr Bestes geben werden.

Hochschulforum Digitalisierung: Welche kritischen Reaktionen gab es auf Ihre Forderungen und wie schätzen Sie diese ein?

Geier & Villa: Es gab unterschiedliche Arten von Kritik. Konstruktiv fanden wir alle Hinweise darauf, dass es noch viele, viele weitere Schwierigkeiten im Einzelnen gebe, die wir nicht angesprochen hätten. Das war in unserem Sinne. Trotzdem mussten wir hier klarstellen, dass wir uns in unserem Schreiben begrenzen mussten. Der Vorteil des Konzepts Nicht-Semester war aus unserer Sicht ja, dass damit ermöglicht wurde, Strukturen in den Vordergrund zu stellen, und von diesen Strukturen der Beschäftigungsbedingungen, der Lehrdeputatsbelastung, der Studiensituation etc. ausgehend zu diskutieren, wie man für möglichst viele das Ausnahmesemester möglichst gut bewältigbar machen könnte. Dass damit nicht alle Einzelfälle abgedeckt werden konnten, war uns klar, aber das haben wir auch nicht als unsere Aufgabe gesehen. Wir sind ja nicht die Entscheider*innen, sondern wollten Impulse in eine bestimmte Richtung setzen.

Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf die Empirische Realität-

Konstruktiv war durchaus auch Kritik am Begriff des Nicht-Semesters, und deshalb haben wir von Anfang an in allen Interviews und Statements, in denen wir noch einmal Gelegenheit bekommen haben, unsere Anliegen zu erklären, auch mitthematisiert, dass wir durchaus sehen, dass das für Irritationen sorgt. Auf der Homepage nichtsemester.de, die wir dann eingerichtet haben, haben wir auch mehrfach die Diskussionen aufgegriffen, da uns dieser kritische Austausch wichtig ist, und auch klargestellt: Wir hängen nicht am Begriff, uns geht es um die Probleme, und der Begriff bringt einfach nur immer noch am deutlichsten zum Ausdruck, dass es um eine Veränderung der Systemlogik vom Normalsemester zum Ausnahmesemester geht. Aber ob man das nun Kreativsemester oder Optionssemester oder Solidarsemester oder Pandemiesemester – alles existierende Vorschläge – nennt, ist uns wirklich egal, solange die Probleme angepackt werden.

Der dritte Typus von Kritik war für uns wenig relevant: Das waren zum einen Wortmeldungen, die sich allein gegen den Begriff Nicht-Semester wendeten, als ob wir den Lehrbetrieb stoppen wollten. Widerspruch um des Widerspruchs willen, möglichst öffentlichkeitswirksam zur eigenen Profilierung, ohne die Argumente und Vorschläge im Offenen Brief überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, hat ein gewisses Irritationspotential. Es hat aber selbstverständlich die Diskussion ebenso wenig vorangebracht wie andere Vorwürfe: Wir wären gegen Digitalisierung, und wir wären unsolidarisch, gar elitär und realitätsfremd. Manche haben uns vorgeworfen, die echten Probleme derjenigen nicht zu sehen, die sich – wie Krankenschwestern, Ärzt*nnen oder Kassierer*innen – extrem einsetzen und für alle abarbeiten in der aktuellen Krise. Das aber haben wir ausdrücklich angesprochen in unserem Text. Wir sind uns unserer Privilegien bewusst, und nehmen diese als ethische Verpflichtung; wir wollten uns aber auf unseren Wirkungskreis beschränken. Wer die Bedingungen, unter denen nun digitale Lehre geplant und geleistet werden soll, anspricht, will digitale Lehre gerade ermöglichen. Wir alle sind selbstverständlich dabei, die digitale Lehre bei uns mitzuplanen, wir haben Erfahrungen mit digitaler Lehre. Der Hinweis auf strukturelle Probleme und das Arbeiten an ihrer Lösung in unseren eigenen Bereichen gehen Hand in Hand!

Das Argument Solidarität fanden wir besonders erstaunlich, da wir ja gerade für eine solidarische und faire Gestaltung des universitären Raums plädieren und sagen: Andere Gruppen in der Gesellschaft sind wesentlich mehr belastet. Das zu sehen, bedeutet aber nicht, dass man nicht im eigenen Verantwortungsbereich ebenso Ungleichheiten und Probleme thematisieren müsste. Ganz im Gegenteil!

Hochschulforum Digitalisierung: Sie appellieren an die Entscheidungsinstanzen, auf sämtlichen Ebenen der Hochschulpolitik und -verwaltung, haben Sie bereits erste Reaktionen vernommen oder politische Entscheidungen, die Sie begrüßen?

Geier & Villa: Es gibt sehr positive Signale zum BAföG und zur Regelstudienzeit, auf andere dringliche Belange der Studierenden gibt es bislang kaum bis wenige Reaktionen. Nicht viel anders sieht es bei den Lehrenden aus: Die DFG hatte ja schon vorher ein vorbildliches Signal für die Verlängerung von Promotionsstipendien gesetzt, auf das wir uns dann auch bezogen haben. Wir sehen oder werden hingewiesen auf Diskussionen an einzelnen Universitäten über die Frage des Deputats, der Laufzeit von Verträgen für befristet Beschäftigte, aber bislang gibt es hier eher und dazu noch wenige Absichtserklärungen. Wir hoffen sehr, dass sich das noch ändert, und tun alles, was uns möglich ist, um dazu beizutragen.  

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