#CoronaCampus: Es braucht digitale Lehr- UND Lernkompetenz
#CoronaCampus: Es braucht digitale Lehr- UND Lernkompetenz
24.03.20Für ein erfolgreiches, virtuelles Hochschulsemester braucht es digitale Lernkompetenz bei den Studierenden. Welche Hilfestellungen sollte es für Studierende geben, damit sie in ihrem Selbstmanagement im Homeoffice unterstützt werden? Wie können Beratungsangebote Studierende aktuell erreichen? Erste Orientierung & Antworten auf diese Fragen liefern Prof. Dr. Tobias Seidl und Matthias Förtsch.
Die Schließung von Schulen und die Verschiebung des Semesterstarts an Hochschulen führen zu hektischer Aktivität an vielen Einrichtungen: Eine Übersicht über vorhandene Software und Infrastruktur wird erstellt, Kapazitäten von Servern überprüft, Lehrende geschult und neue didaktische Konzepte erstellt bzw. skaliert. In der Krise zeigt sich deutlich, wie unterschiedlich der Stand der digitalen Unterstützung von Lehr-/Lernprozessen an den verschiedenen Einrichtungen ist. Die hohe Aktivität konzentriert sich verständlicherweise bislang vor allem auf die Seite der Organisation bzw. der Lehrenden, da hier relativ schnell und koordiniert Veränderungen erreicht werden können.
Digitale Lernkompetenz: Selbstmanagement
Was ist jedoch mit den Lernenden? Lernen mit typischen digitalen Lehr-/Lernszenarien (Bereitstellung von Selbstlernmaterialien wie Videos oder e-Tests, aber auch synchrone Lernsettings, etwa über Zoom oder Adobe Connect) stellt andere und zum Teil auch neue Anforderungen an die Lernenden als Präsenzsettings. Dazu gehören etwa technische Fähigkeiten, je nach Gestaltung des Lehr-/Lernsettings spezifische Formen der Medienkompetenz, aber vor allem auch Selbstmanagement (= nach Weisweiler, Dirscherl & Braumandl 2013: “Selbstmanagement [ist] die Fähigkeit, persönliche Ziele und Werte/Motive so in Einklang zu bringen, dass selbstgesetzte Ziele erreicht werden und dabei Zufriedenheit erlebt wird”).
Zu erfolgreichem Selbstmanagement gehören funktionierende Planungs-, Organisations-, Motivations- und Zielsetzungsprozesse. Für das erfolgreiche digitale Lernen bedeutet das etwa die selbstständige Planung und Einteilung der Lernzeit, die bewusste Gestaltung von Lern- und Arbeitsprozessen, aber vor allem auch motivationale Strategien, z.B. Selbstdisziplin auch in unattraktiven Lernphasen. So muss etwa die Herausforderung der Trennung zwischen Fokussierung (auch im Sinne von Deep Work nach Cal Newport) und Prokrastination systematisch eingeübt werden (z.B. mit der Pomodoro-Technik). Denn nur wenige Klicks von der digitalen Lernplattform oder der Videokonferenz entfernt warten Angebote wie Netflix oder Tiktok.
Eigene Erfahrungen im Lehralltag, aber auch beispielsweise der Ausbau entsprechender Angebote durch Studierendenwerke und Beratungsstellen, deuten darauf hin, dass ein gelungenes Selbstmanagement bei Studierenden keine Selbstverständlichkeit ist. Durch die momentane soziale Isolierung und Unterbrechung von Alltagsroutinen werden die Anforderungen an die Selbstgestaltung von Arbeitsprozessen tendenziell noch höher. Schulen und Hochschulen stehen also vor der Herausforderung, die Entwicklung digitaler Lernkompetenz zum einen kurzfristig aber auch (unabhängig von der momentanen Ausnahmesituation) grundsätzlich zu fördern. Bestehende Erfahrungen aus Modellprojekten an Schulen können dazu wichtige Impulse geben.
In erfolgreich durchgeführten “Tabletprojekten” an Schulen stehen auf Seite der Lernenden zu Beginn regelmäßig technische Herausforderungen im Vordergrund. Dabei gilt es vor allem, neben zentral bereitgestellten Informationen, den Schritt zum gegenseitigen Support zu initiieren, Selbstverantwortung und Selbstständigkeit zu fördern. Das kann z.B. durch einen Support-Kanal, auf dem Erklärvideos oder FAQ durch Mitlernende erstellt werden, gelingen.
Wenn die Technik funktioniert, werden die Lernenden vor neue Herausforderungen gestellt. Nach zwei Jahren Arbeit in einem Projekt, das die Implementierung zeitgemäßer (digitaler) Lernformen im Schulbereich anstrebte, gaben die Schüler*innen zunächst auch an, besser im Lösen von (technischen) Problemen geworden zu sein. Darüber hinaus bemerkten sie an sich selbst weitere Kompetenzzuwächse, beispielsweise in den Bereichen (digitale) Präsentationsfähigkeit, (digitale) Zusammenarbeit in Projekten, selbstständiges Arbeiten, sowie Selbstorganisation (des Alltags).
Hinsichtlich der angesprochenen Kompetenzen kommt es (wie oben skizziert) im Schul- und Hochschulsystem jetzt verstärkt zu Verantwortungszumutungen: Die oben genannten Fähigkeiten werden jetzt vorausgesetzt, wurden aber oftmals nicht systematisch eingeführt, erarbeitet und in Handlungsroutinen überführt.
Folgende Interventionen könnten helfen, die Situation kurzfristig zu verbessern:
Eine Unterstützung der Studierenden in den genannten Kompetenzbereichen wurde in der Vergangenheit oft durch studentische Beratungsstellen oder Studienberatungseinrichtungen gewährleistet. Diese Angebote müssen nun auf die veränderte Situation (inhaltlich aber auch medial) angepasst werden. Zudem bietet es sich an diese Unterstützungsangebote parallel zu den digitalen Lernformaten direkt über die Fächer bzw. die Fachlehrenden zu kommunizieren.
Handreichungen können den Studierenden Hilfestellungen zum Umgang mit der neuen Situation geben. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa eine Handreichung der University of Michigan, die sich sieben Handlungsfeldern widmet:
- Staying organized
- Avoiding multitasking
- Making the most of video lectures
- Setting a schedule
- Trading your strategies for new ones
- Working with a group or team
- Staying connected to other people
Eine weitere Möglichkeit wäre die Kuratierung bestehender Informations- und Selbstlernangebote. Zum Teil haben einzelne Hochschulen bereits sehr umfangreiche (digitale) Selbstlernangebote zum angesprochenen Themenbereich entwickelt (z.B. das KIT Karlsruhe oder die Universität Leeds). Ggf. könnte hier auch über Kooperationen oder eine kurzfristige Öffnung für eine breitere Öffentlichkeit nachgedacht werden, da eine zeitnahe Erarbeitung vergleichbarer Angebote viele (vor allem auch kleinere) Hochschulen überfordern würde.
Ein sehr umfangreiches Handlungsfeld wäre die systematische Initiierung persönlicher Lernnetzwerke (PLN) über die traditionellen Bildungsinstitutionen hinaus. D.h. das Bilden von (digitalen) Netzwerken in denen sich Lernende gegenseitig (etwa in Form von Peer-Learning oder dem Teilen bzw. Kuratieren von Materialien) unterstützen. Dies besteht in der Regel aus drei Tätigkeiten:
- Sammeln und Verarbeiten von Informationen
- Produzieren und Publizieren von Inhalten
- Zusammenarbeit und Austausch mit anderen Lernenden
Da formelles und informelles Lernen ohnehin ineinander greifen, würden damit über die momentane Situation hinaus wichtiger Zugänge zu Lernen ermöglicht. Um die jeweiligen Chancen dieser Lernformen zu nutzen, bedarf es der Thematisierung und Wahrnehmung der methodischen Unterschiede von formellen und informellen Lernen (vgl. dazu auch Rosa 2013).
Die momentane Krise macht (neben der aktuellen Herausforderung) auch deutlich, dass wir uns grundsätzlich über den Erwerb digitaler Lernkompetenz an Schulen und Hochschulen Gedanken machen müssen. Im Hinblick auf zukunftsorientierte Ausbildung müssen wir digitale Lehr-/Lernsettings selbstverständlich in den Regelunterricht integrieren und damit und durch eine gute Begleitung die Lernenden unterstützen, nachhaltig digitale Lernkompetenz zu entwickeln. Dies ist im übrigen nicht nur eine präventive Maßnahme für zukünftige Krisen, sondern im Hinblick auf die Anforderungen, die life-long-learning an den/die Einzelne/n stellt, eine Notwendigkeit. Kontinuierliche Aus- und Weiterbildung wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen und vermehrt digital unterstützt stattfinden. Diese als Lernende effektiv und effizient nutzen zu können ist damit eine zentrale 21st century skill.
Literatur
Lisa Rosa (2013): Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media. In: Schumacher/Renstorf/Thomas: Projekt: Unterricht: Projektunterricht und Professionalisierung in Lehrerbildung und Schulpraxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Silke Weisweiler, Birgit Dirscherl, Isabell Braumandl (2013): Zeit- und Selbstmanagement. Ein Trainingsmanual – Module, Methoden, Materialien für Training und Coaching. Berlin: Springer.