Bologna digital – Ist unser gegenwärtiges Campus-Management-Konzept den Herausforderungen der Bologna-Vorgaben wirklich gewachsen?

Bologna digital – Ist unser gegenwärtiges Campus-Management-Konzept den Herausforderungen der Bologna-Vorgaben wirklich gewachsen?

29.05.17

Campus-Management-Integrationsstufen

Die zunehmende Digitalisierung der Universität kommt nicht nur in Forschung und Lehre an, sondern auch in der Verwaltung. Dort sollen digitale Prozesse dazu dienen, die Mobilität der Studierenden zu unterstützen. Raimund Matros von der Universität Bayreuth vergleicht den Idealzustand des Campus-Management-Systems mit der Realität und benennt Schritte, die bis zur interuniversitären Vernetzung noch getan werden müssen.  

Titelbild digitales StudiumStudierende des Zeitalters der digital natives treffen auf Jahrzehnte lang gewachsene Strukturen im Klammergriff zwischen Bologna und Hochschulgesetzen. Durch Campus-Management-Einführungen erhoffen wir uns die Lehrverwaltung gewinnbringend zu digitalisieren. Doch warum bleiben so viele Potenziale ungenutzt? Und was können wir dagegen tun?

Campus-Management-Projekte sind nicht selten die Digitalisierungsantwort auf die immer größer werdenden bürokratischen Herausforderungen durch die Bologna-Reform. Diese Erwartungen kommen gleichermaßen aus Wirtschaft, Wissenschaft und von den durchführenden Institutionen selbst [1-5].

Nach beinahe zehn Jahren Erfahrung der deutschen Hochschulen mit Campus-Management-Projekten und -Systemen sollte die Frage erlaubt sein, ob diese Digitalisierungsvorhaben sich wirklich förderlich auf die Bologna-Ziele ausgewirkt haben.

Die Bologna-Reform wurde ursprünglich unter dem Leitmotiv der Studierendenmobilität verabschiedet. Dadurch soll im Wesentlichen der Austausch des Lehrangebots im europäischen Hochschulraum erleichtert werden. Zu den Eckpunkten gehören ein modularisiertes Kurssystem mit Leistungspunkten für grundständige und konsekutive Studiengänge. Dieses sogenannte European Credit Transfer System (ECTS-System) soll den Vergleich und die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen in ganz Europa ermöglichen. Diese Homogenisierung in der Lehrverwaltung eignet sich als ideales Wirkungsfeld für Digitalisierungsvorhaben wie Campus-Management-Projekte. Aber was bedeutet es eigentlich für den europäischen Bildungsraum, wenn wir die Lehrverwaltung digitalisieren?

Idealisiertes Bologna-Szenario

Um dieser Frage nachzugehen stellen wir uns ein Szenario idealer Lehrmobilität vor. Ein akademisches Europa frei von ordnungspolitischen, organisatorischen, institutionellen und technischen Friktionen. In einer solchen Welt gibt es keine willkürlich zusammengefassten Bündel aus Kompetenzen, die wir heute Studiengänge nennen. Verbriefte Kompetenzen existieren in Moduleinheiten, die alle notwendigen beschreibenden Informationen enthalten. Module können nach einmaliger Vorlage einer europäischen Hochschulzugangsberichtigung und dem Erhalt einer europäischen Studierendenkennung an allen beteiligten universitären Institutionen erworben werden. Studierende sind im europäischen Hochschulraum durch eine Kennung eindeutig identifizierbar. Ihre digitale Bildungsbiographie beginnt in der ersten Schulklasse und dauert ein Leben lang an. Kompetenzen werden vollständig und eindeutig durch den Einsatz der Blockchain-Technologie im persönlichen digitalen Studienbuch aufbewahrt [6]. Siehe Abbildung 1.

Digitaler Modulschein im idealisierten Bologna-Hochschulraum

Diese Welt funktioniert ohne komplexe Regelungsstrukturen, wie wir sie als Studien- oder Prüfungsordnungen kennen. Gleichartige Kompetenzen sind in Äquivalenzklassen geordnet, da es keinen Unterschied macht, ob Module mit gleichen Lehrinhalten bspw. in Barcelona oder in Turin erworben werden. Studierende erhalten Empfehlungen welche Module sinnvoll kombiniert werden können. Diese Empfehlungen kommen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Dadurch können die Weichen für die eigene Bildungsbiographie zielgerichtet gestellt werden, da Anforderungen der Kompetenznachfrager auf europäischer Ebene genau formuliert sind. Employability-Aspekte sind nicht studiengangs- sondern kompetenzorientiert. Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Arbeitgeber beteiligen sich selbst und ohne Verzögerung durch Verwaltungsakte an der zukünftigen Ausbildung des akademischen Nachwuchses. Studierende lernen in einem weniger bürokratischen Umfeld und entscheiden selbst über Ort und Geschwindigkeit ihrer Ausbildung [7].

Eine solche Welt stellt natürlich neue Herausforderungen an die Planbarkeit der Hochschulressourcen und auch an die staatlich gesteuerten Ausbildungen wie bspw. Lehramt oder Jura. Für dieses Gedankenexperiment können diese Aspekte aber vernachlässigt werden. In manchen Bereichen ist die Realität aber ähnlicher als wir denken. Heutzutage ist es bspw. schon durch geschickte Anrechungspraxis möglich, die Anzahl der Studienabschlüsse zu optimieren und dadurch eine scheinbare Mobilität zu erzeugen. Dieser fehlgeleitete Anreiz kommt durch die Schwächen in der gegenwärtigen Umsetzung der Bologna-Reform zustande. Erworbene Leistungen können beliebig oft angerechnet und somit simultan an mehreren Institutionen für den Erwerb von Abschlüssen genutzt werden. Dies hat mehrere Ursachen: Die erworbenen Module sind nicht digital, eindeutig und einmalig verfügbar. Stattdessen gibt es Hilfskonstrukte über sog. „Transcript of Records“ oder papierbasierte Scheine. Darüber hinaus laufen die formalen Äquivalenzprüfungen für die Anrechnungen i. d. R. manuell und ohne elektronischen Abgleich ab. Inhaltliche Äquivalenzklassen existieren gar nicht erst und müssen immer im Einzelfall neu geprüft werden. Außerdem gibt es keine Informationen über die Verwendung der Leistung in anderen Studiengängen, da es keinen Datenaustausch gibt.

Vor dem Hintergrund dieser digitalen Hemmnisse stellt sich die Frage, inwiefern Campus-Management-Projekte Einfluss auf diese Entwicklung haben oder haben können.

Campus Management und Bologna

Campus-Management-Systeme (CMS) speichern und verarbeiten personen-, veranstaltungs- und leistungsbezogene Daten innerhalb einer Universität [8]. CMS wurden primär dafür entwickelt, um die administrativen Veränderungen durch die Bologna-Reform wie bspw. die Modularisierung von Studiengängen, studienbegleitende Prüfungen und zusätzliche Zeugnisdokumente zu unterstützen.

Die Hochschulinformationssysteme vor der CMS-Ära waren i. d. R. hochspezialisierte Anwendungen, die nur von einer vergleichsweise geringen Anzahl spezialisierten Verwaltungspersonals genutzt wurden. Diese erste Welle der Digitalisierung des studentischen Lebenszyklus orientierte sich an funktionalen Organisationsstrukturen einzelner Bereiche der Hochschule wie z. B. der Studierenden- oder Prüfungsverwaltung. Mit den reformierten Studiengängen kamen aber schnell weitere Benutzergruppen und vernetzte Prozesse hinzu. Die meisten Hochschulen in Deutschland setzen deshalb gegenwärtig auf integrierte Standardsysteme weniger etablierter Anbieter, die Referenzprozesse für die elektronische Prozessabbildung anbieten. Insgesamt lassen sich in diesem Marktsegment in Deutschland derzeit 22 Anbieter ausmachen, wobei weiterhin neue Anbieter hinzukommen [9]. Allen integrierten Standardsystemen ist gemein, dass sie Funktionalität über alle Verwaltungsfunktionen des Studentischen Lebenszyklus hinweg anbieten.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Digitalisierung der Lehrverwaltung im deutschsprachigen Raum in verschiedenen Geschwindigkeiten abläuft und in vielfach unterschiedlicher Weise umgesetzt ist. Das typische Ergebnis eines durchgeführten Campus-Management-Projekts ist die Teilintegration der Prozesse der Lehrverwaltung in Verbindung mit der Anbindung an bestehende Altsysteme. I. d. R. bringt diese Situation die Hochschule den Bologna-Zielen noch nicht wirklich näher. Die universitäre Lehrverwaltung arbeitet erst dann digital und effizient, wenn die gesamte Hochschule in allen Fach- und Funktionsbereichen und vollständiger Datenabdeckung mit dem System arbeitet. Jede künstliche Trennung im Datenverkehr eines integrierten Standardsystems ist faktisch gleichzusetzen mit der Nutzung einzelner spezialisierter Anwendungen. Die Nutzung einzelner Systeme muss allerdings keinen Nachteil bedeuten, solange sie vollständig integriert arbeiten und alle notwendigen Daten austauschen. Aber meistens ist es ja gerade das Ziel von CMS-Einführung solche Satellitenlandschaften zu ersetzen. Abbildung 2 zeigt die unterschiedlichen Integrationsstufen von CMS-Vorhaben.

Campus-Management-Integrationsstufen

Bei aller Integration und Effizienz dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir uns immer noch auf der Institutsebene einer einzelnen Hochschule bewegen, und dass bei einer unvollständig integrierten CMS-Lösung die Studierendenmobilität an einer einzigen Hochschule bereits erschwert wird. Es ist ein Unterschied, ob Studierende, die ihren Studiengang wechseln, innerhalb von Sekunden bereits Zugriff auf ihre nun neu zugeordneten Modulleistungen mit etwaigen Wahlmöglichkeiten erhalten, oder ob sie mit einem Stapel Papier auf dem Campus unterwegs sind, um manuell Altleistungen aus dem alten System ins neue übertragen zu lassen. Der Weg zu einem gemeinsam integrierten Hochschulraum ist dabei noch gar nicht beschritten. Selbst wenn wir vollständig institutsintern integriert sind, gibt es bislang keinen elektronischen Standard, der es erlaubt Leistungen in der Lehre digital zwischen Institutionen auszutauschen. Und das obwohl eigentlich Rahmenvorgaben durch die KMK existieren.

Wir hören häufig, dass jede CMS-Einführung besonders und jedes eingeführte CMS in seiner Prozessstruktur einzigartig sei. Bei aller Individualität und Spezifität sollte hinterfragt werden, inwiefern einzigartige Bologna-Prozesse in der Lehrverwaltung förderlich für einen gemeinsamen Hochschulraum sind. In vielen Fällen werden sogar die Maßnahmen einer (System-)Akkreditierung, die insbesondere Standardisierungen in der Lehrverwaltung beinhalten, unabhängig von CMS-Einführungen durchgeführt. In diesem Szenario ist die Gefahr groß, dass die Vorstellungen über Qualitätssicherung und die realen digitalen Prozessabläufe auseinanderlaufen [10]. An dieser Stelle kann man sich fragen, warum eigentlich bisher keine CMS als Bologna-konform akkreditiert oder zertifiziert wurden? Schließlich sind das die Systeme, die täglich benutzt werden.

Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass die Spezifität der Hochschulen in der Lehrverwaltung, die ausschlaggebend für die Studierendenmobilität ist, durch CMS-Einführungen kaum beeinflusst wird. Aber woran liegt das? Haben Hochschulen vielleicht gar nicht den Anspruch mit CMS-Einführungen das universitäre System der Lehrverwaltung auf einen interoperablen Bologna-Standard zu bringen? Vielleicht nicken aber auch die CMS-Anbieter und ‑Dienstleister zu leichtfertig jeden Wunsch nach Individualität und Komplexität ab, da sie eben keine Akkreditierungsagentur sind und keine Forderungen stellen dürfen. Es ist auch möglich, dass die Heterogenität in den Integrationsstufen der Digitalisierung (Abbildung 2) noch keine gemeinsamen Anstrengungen zulässt. Vielleicht bieten aber auch die föderalen Bildungsstrukturen zu wenig Anreize für den Aufbau eines zumindest bundesweiten Austauschstandards.

Was können wir heute tun um Bologna digital zu leben

Der digitale Hochschulalltag erfordert die möglichst tiefgreifende Integration der digitalen Lehradministration. Um diesen Zustand zu erreichen, ist es entscheidend, ein Bewusstsein für ein digitales Ökosystem im Sinne eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums zu schaffen. Dies kann aber nur funktionieren wenn sich Hochschulen nicht als einzigartige und einmalige Institutionsinstanzen verstehen. Es muss ein gemeinsamer Nenner etabliert werden, den es eigentlich schon gibt ‑ Bologna. CMS-Einführungen haben einen qualitätssichernden Auftrag, mindestens genauso sehr wie die Systemakkreditierung. Es geht nicht nur um die bloße Abbildung einer möglichst originalgetreuen Universitätsverwaltungsstruktur. Vielleicht ist es deshalb ratsam die Standardsysteme auch als solche zu begreifen und die Lastenhefte an die realistischen Adaptionsmöglichkeiten der CMS anzupassen.

Gleichzeitig müssen sich Hochschulen darauf verlassen können, dass die Einführung von CMS eine interuniversitäre Vernetzung zulassen. Technisch gesehen bedeutet das die Schaffung von Standards für einheitliche Bologna-Prozesse und mehr Interoperabilität. Hier sind Hersteller und Akkreditierungsagenturen gleichermaßen gefragt. In bestimmten Branchen der Wirtschaft sind solche Software-Zertifizierungen durchaus üblich. Wie z. B. die Zertifizierung von Software für die Benutzung im medizinischen Bereich oder aber die Zertifizierung von Software für das Finanz- und Rechnungswesen. Die Nutzung aktueller zertifizierter Releases gibt Sicherheit, dass aktuelle Standards eingehalten werden [11,12].

Die zwei wichtigsten Handlungsfelder für Hochschulen sind der Abbau von Komplexität in der Lehrverwaltung und das Zusammenrücken von Qualitätssicherung und Campus Management. Die Anbieter und Dienstleister hingegen sollten nicht versuchen jede akademische Komplexität abzubilden und eng mit den Akkreditierungsagenturen zusammenarbeiten. Außerdem muss die Interoperabilität verbessert werden, damit in Zukunft auch der Datenaustausch zwischen Hochschulen möglich ist.

Literatur

[1] Degenhardt, L., Gilch, H., Stender, B., & Wannemacher, K. (2009). Campus-Management-Systeme erfolgreich einführen. In Wirtschaftsinformatik (2), 463-472.

[2] https://www.his.de/produkte/hisinone/sachbearbeitung/campus-management.html (abgerufen am: 12.5.2017)

[3] Kuper, S., & Göcks, M. (2007). Campus-Management-Systeme einführen–Faktoren erfolgreichen Projekt-und Change-Managements. Wissenschaftsmanagement, 3, 40-46.

[4] https://www.scheer-group.com/Scheer/uploads/2016/03/Scheer_Factsheet_CampusMgmt_2016-03.pdf (abgerufen am: 12.5.2017)

[5] Sprenger, J., Klages, M., & Breitner, M. H. (2010). Wirtschaftlichkeitsanalyse für die Auswahl, die Migration und den Betrieb eines Campus-Management-Systems. Wirtschaftsinformatik, 52(4), 211-224.

[6] J. Pereira: Ethereum and Education are a perfect match, abgerufen am 13.03.17: https://blog.otlw.co/ethereum-and-education-are-a-perfect-match-85750a3bcbe4#.pp0pmyasd (abgerufen am: 12.5.2017)

[7] Galda, M.; Matros, R.: Digitalisierung und Hochschule: Modellierung metainstitutioneller Governance, Symposium: „Governance, Performance & Leadership of Research and Public Organizations“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2015

[8] R. Alt, G. Auth: Campus-Management-System. In: Wirtschaftsinformatik 52, Nr. 3, 2010, S. 187-190.

[9] G. Auth: Die Rolle von Campus-Management-Systemen für die Digitalisierung der Hochschulen, in: Die neue Hochschule, Nr. 4, 2016, S. 114-117.

[10] R. Matros, M. Galda: Digitalisierung in der Hochschullehre, Wissenschaftsmanagement, Nr. 4, 2016.

[11] ftp://ftp.kbv.de/ita-update/Allgemein/KBV_ITA_RLEX_Softwarezertifizierung.pdf
(abgerufen am: 12.5.2017)

[12] http://www.tuev-sued.de/produktpruefung/dienstleistungen/qualitaetssicherung/softwarequalitaet/pruefungen_buchhaltungssoftware (abgerufen am 12.05.2017)

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