Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Wir Knowmaden

Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Wir Knowmaden

07.04.15

„Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, schrieb der französische Philosoph Rousseau. Er könnte von unserer Bildungslandschaft gesprochen haben. Sie gleicht häufig einem ermüdenden Bildungskorsett statt einem ermündigenden Bildungsgerüst. Knowmaden werden so gefesselt statt entfesselt. Was macht eigentlich unsere Bildung aus uns und wir mit ihr im digitalen Zeitalter?[1]

Dies ist das Zeitalter der Knowmaden. Unser Lernprozess muss sich ändern und flexibles Lernen ermöglichen, um Lernen erstens individuell und zweitens mobil zu gestalten. Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass es eines Dorfes bedarf, um ein Kind zu erziehen. Heute erzieht und bildet uns die ganze Welt. Bildung wird selbst zusammengestellt – nach Bedarf. Zwar würfeln einige Universitäten bereits kräftig ihre Studiengänge durcheinander, um so teils exotische Studienmöglichkeiten zu schaffen. Meist haben heute aber Abschlüsse Wahlpflicht- und wenige wahlfreie Kurse, während im Morgen der Zukunft Qualifikationen selbst variabel sein können.

Die Bildungsumgebung wird eine Symbiose aus lokal und global. Wir leben im glokalen Raum. Neue Techniken und Technologien ermöglichen ein Verschmelzen von Lernorten. Grenzen verflüssigen sich und nicht das einzelne Fach, sondern die zu erlernende Fähigkeit rückt in den Vordergrund. Lernen ist so aktiv statt reaktiv. Wir lernen in der Gegenwart vom Wissen aus der Vergangenheit für die Zukunft. Nützliche Bildung ist nicht konformes Wissen der Vergangenheit für die Vergangenheit oder für die Gegenwart, sondern das, womit wir die Gesellschaft weiterentwickeln – für die Zukunft.

In dieser Zukunft werden wir uns unsere Abschlüsse selber mixen können. Einen Abschluss in Innovation und Kunstgeschichte kreieren – ein paar Klicks und das Curriculum steht und die Einschreibung beginnt. Statt dass der Lehrende das Curriculum für den fremden Lernenden vorschreibt, entwickelt der Lernende sein eigenes Programm, hinter dem er steht und das ihn dadurch umso mehr antreibt. Individuelles Lernen heißt auch, dass aus einer Vielzahl von Möglichkeiten und Medien gewählt werden kann. Lernprozesse und -programme werden mit Software koordiniert und los geht das Semester. Dabei dient die digitale Welt als Komplementär, nicht als Substitut, um den Bildungsprozess nicht zu dehumanisieren.

Im Zeitalter von Wikipedia und Google ist besonders das Wissen-wo beziehungsweise das Wissen-wie und weniger das Wissen-was wichtig. Es sind Fähigkeiten, nicht Wissensbausteine, die flexibel genutzt werden. Paradoxerweise sollte in einer Wissensgesellschaft nicht mehr Wissen von allen geteilt werden müssen, sondern vielmehr unterschiedliches Wissen gut verstreut sein. Arbeitsteilung heißt auch Wissensteilung. Die Gesellschaft ist ein anspruchsvolles und daher reizvoll zusammengesetztes Mosaik.

Dabei ist Technologie mit Weitsicht und Vorsicht zu genießen. So suggerieren Suchmaschinen wie Google eine trügerische Darstellung einer neutralen Realität. Stattdessen bewertet der Algorithmus von Google vorherige Suchabfragen und auch andere Onlineaktivitäten bis hin zu Details des genutzten Computers sowie den Ort, an dem sich der Nutzer befindet. Heraus kommt eine individualisierte Scheinwelt. Die Fähigkeit, Wissenskonstrukte und Wissenswerkzeuge zu hinterfragen, gewinnt so an Bedeutung.

Bildung selbst wird sogar noch mobiler sein als Lernende und Lehrende. Sie verliert keine Reisezeit, kann parallel genutzt werden und hängt nicht mehr von einer Institution ab. Unterricht wird nicht mehr aus einzelnen Schul- und Universitätssilos bestehen. Warum auch? Warum sollte die Geografie, sollten die Grenzen von Institutionen bestimmen, was der Einzelne hört, sieht, nutzt? Ein Kurs in Harvard, einer in Mannheim und einer in Oxford. Warum nicht? Und das gleichzeitig.

Studieren im kalten England während des Urlaubs auf den Malediven? Kein Problem. Bildung wird überall von überall aufgenommen. Vorlesungen, Skripte, Bücher, Treffen – all das kann online und offline geschehen. Dabei verschmelzen vermehrt reale und digitale Welt zu einer erweiterten Realität. Doch nicht nur der Lernende ist mobil, auch der Lehrende kann seinen Zeitplan besser jonglieren und seinen Studenten aus der Welt berichten, vielleicht gar von einer Konferenz und dabei seine Kollegen bitten, ein paar Fragen zu beantworten. Der Klassenraum ist überall.

Wir genießen die Möglichkeit von Bildungsfreiheit. Doch mit Freiheit kommt auch Verantwortung. Der Lernende wird verstärkt Lehrender seiner selbst. Er bekommt ein Mehr an Eigenständigkeit. Lernen, auch semi-institutionalisiertes, hört nicht mit der Schule oder der Universität auf. Wir werden uns mobile, personalisierte Bildungsabonnements kaufen. Diese werden wie moderne Zeitungsabonnements eine Bausteinzusammensetzung von dem sein, was der Einzelne lernen möchte. Wissenstransfer und Bildungstransfer geschehen überall und jederzeit. Aus Nomaden wurden sesshafte Menschen und werden im 21. Jahrhundert Knowmaden.

In den nächsten Jahrzehnten werden sich die Universitätslandschaften weiter wandeln. Das vierte Aufgabenfeld Entrepreneurship fügt sich neben Forschung, Lehre und Administration in den Arbeitsplan von Akademikern, womit Forschung und Anwendung, Bildung und Umsetzung stärker verknüpft werden. Es werden globale Online- beziehungsweise Semionlineuniversitäten mit über einer Million Studierenden entstehen – aufgrund der Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen, qualitativ hochwertiges wie auch sehr spezielles Wissen anzubieten, Flexibilität zu schaffen, Skalenerträge zu ermöglichen und kostengünstig Wissen zu überarbeiten und bausteinartig zusammenzufügen. Schon jetzt haben Onlineinstitutionen wie die Phoenix Universität knapp 500.000 Studierende. Das weltweite Marktvolumen für tertiäre Bildung beträgt dabei laut UNESCO über 150 Millionen Studenten pro Jahr. Der Mensch im 21. Jahrhundert wird kontinuierlich lernen (müssen) und dieses zeitlich, örtlich und inhaltlich flexibel tun (können) – oftmals als Komplementär zu einem tief greifenden Basisstudium.

Bildung ist kein Fertiggericht. Wie Konfuzius vor 2.500 Jahren bereits schrieb, bedarf es unersättlichen Lernens und unermüdlichen Lehrens. Erziehung ist eine Kunst. Und wie schon die faszinierenden Dialoge von Sokrates zeigen, ist Bildungsvermittlung auch keine Einbahnstraße. Die deutsche Universität ist heutzutage vielerorts eine Belehrungs- beziehungsweise Verlehrungsanstalt. Vielmehr gilt nach Schiller: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt und er spielt nur dann, wenn er ganz Mensch ist.“ Und nur dort, wo er Mensch ist, kann er sich in seinem Menschsein weiterbilden, kann agieren, statt zu reagieren oder gar nur passiv animiert zu werden.

In Kindergärten, Schulen und Universitäten erlernt das Kind seine Verflechtungen zu sich selbst, seine Beziehungen zu anderen Menschen und die Beziehung zu seiner Umgebung. Die Pädagogik hat die große und großartige Aufgabe, das Lernen selbst zu ermöglichen, indem sie zeigt, wie man lehrt und lernt. Es gibt unterschiedliche Konzepte und Selbstverständnisse vom Lernen und Lehren. In den meisten Fällen in unserem Bildungssystem, so scheint es zumindest, wird der Mensch auf seinen Kopf reduziert. Alles darunter ist Anhängsel. Dieses Verständnis vom Menschen hat fatale Folgen. Wann entdecken wir den ganzheitlichen Menschen wieder?

Bildung ist ebenso kein linearer Prozess. Sie findet sich vielmehr eben auch dort, wo es nicht geradeaus geht: in der Verzögerung, in der Unterbrechung. Bildung ist daher auch nicht so einfach messbar. Wir müssen uns verabschieden von dem Gedanken, dass alles Messbare gut und alles Gute messbar ist. Bildung muss daher innerhalb und nicht anstelle des Bildungsprozesses ermöglicht werden. Wie der Schriftsteller Mark Twain es überspitzt formulierte: „I have never let my schooling interfere with my education.“ Schule sollte nicht seine Bildung beeinträchtigen. Schulbildung, Universitätsbildung sind Zutaten zur Bildung. Die nicht institutionelle Bildung umgibt uns überall und jederzeit. Das Subsidiaritätsprinzip ist auch ein Bildungsprinzip. Im zögernden Moment nun erhaschen wir etwas von Bildung, ein Quäntchen Weisheit. Flüchtig ist es zu spüren, um dann zu fühlen, wie es uns aus den Händen gleitet. Dabei hoffen wir, dass – wie es der Philosoph Gadamer es in Bezug auf den Lyriker Hölderin formuliert – „in der zögernden Weile einiges Haltbares sei“.

Wir brauchen ein Bewusstsein für die Tatsache, dass, wie einst Goethes Faust, der Mensch irrt, solange er strebt. Ja, dass Irren menschlich ist. In all den Versuchen, Gesellschaft und Mensch in Einklang zu bringen, sollten wir in der steigenden Beschleunigung häufiger innehalten. Die Suche nach Bildung, nach Weisheit selbst, muss weise sein. Und ebenso sollten wir die Ruhe, das Nichtsuchen und Nichtstreben schätzen – nicht als Pause vom Hauptakt des Lebens, sondern als gleichwertigen Teil des Ganzen, was uns und die Welt im Innersten und Äußersten zusammenhält.

Quo vadis also? Hin zu Personen, welche nicht einfach ein System durchlaufen, sondern sich selbst einen Bildungspfad geschaffen haben. Bildung wird globaler, digitaler, individueller und mobiler. Die Rolle, die Art und Weise des Lehrens und Lernens in den verschiedenen Bildungsinstitutionen ist im Wandel. Dabei zielt Bildung nicht nur auf den Kopf ab, sondern erfasst den Menschen als Ganzes: Körper, Kopf und Herz.[2] Sie ist individuell, aber nicht auf den Menschen gerichtet, sondern erfasst den Menschen als Teil der Gesellschaft. Der Fokus liegt weder auf Themen noch auf Fächern, sondern auf Menschen in ihren Beziehungen zu und in der Gesellschaft.

Das Ziel von Bildung ist nicht, Wissenspersonen zu kreieren oder wirtschaftlich nützliche Personen, sondern gesellschaftlich aktive Personen zu fordern und zu fördern, welche die Gesellschaft und die Menschen bewegen. Im Sinne einer ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit erstrebt sie kreative und soziale Vielfalt. Sie erlaubt stetigen Wandel und daraus resultierende wandelnde Stetigkeit. In diesem Prozess hat keiner alleine die ANTWORT, aber jeder hat VerANTWORTung.

 

 

[1] Der Essay beruht auf Teilen des Kapitels „Weisheit“ des Buches „7 Tugenden Reloaded: Zukunftsmodelle des Think Tank 30“, hrsgg. v. Katharina Diel-Gligor, Wolfgang Gründinger & Ali Aslan Gümüsay, Think Tank 30, Club of Rome.

[2] In diesem Bewusstsein sollten Kreativität und Vielfalt wie auch der Mensch als Ganzes gefördert werden. Bildung ist keine Monokultur und Vielfalt hat einen Wert an sich. Der Mensch trägt vielfältige Verantwortung und braucht die Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu können – ganz im Sinne des alten delphischen Spruchs „Gnothi seauton“ – erkenne dich selbst. Warum lehren und lernen wir nicht individuell-basale Kompetenzen, wie was es heißt, zu essen und zu trinken, und auch individuell-soziale Kompetenzen, wie zu arbeiten und zu erziehen? Warum lernen wir nicht, wie man isst, trinkt oder schläft? Schule ist nur ein Teil und zum Teil Bildung. Keine Minute in der Schule wird auf das Schlafen verwendet, obwohl wir alle fast ein Drittel unseres Lebens damit verbringen – auch so manche Minute in der Schule.

 

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