„Auf Zusammenarbeit setzen!“ – Paul Rühl von der Virtuellen Hochschule Bayern im Interview
„Auf Zusammenarbeit setzen!“ – Paul Rühl von der Virtuellen Hochschule Bayern im Interview
28.07.16In den Gruppen des Hochschulforums Digitalisierung wirken Hochschulvertreter mit, die zusätzlich zur Tätigkeit an ihrer Heimathochschule Funktionen in der Virtuellen Hochschule Bayern (vhb) ausüben. Die vhb selbst ist keine eigenständige Hochschule, sondern eine staatlich finanzierte gemeinsame Einrichtung der Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Bayern. Wir haben mit dem Geschäftsführer der vhb Dr. Paul Rühl gesprochen, um Näheres über die vhb zu erfahren.
Herr Rühl – was ist die vhb, und was ist ihr Zweck?
Die vhb wurde im Jahre 2000 mit Unterstützung des Wissenschaftsministeriums als Verbundinstitut der bayerischen Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften gegründet. Über die vhb fördert Bayern die Entwicklung und die Betreuung von Online-Kursen als reguläre Bestandteile von Studiengängen. Mit diesen zeitlich und örtlich flexibel studierbaren Kursen werden die Studienbedingungen besonders für die wachsende Zahl von Studierenden verbessert, denen ein Vollzeit-Präsenzstudium schwer fällt, weil sie sich um Kinder oder andere Angehörige kümmern müssen, oder weil sie ihr Studium mit einer Berufstätigkeit verbinden müssen. Die vhb ist also nicht zuletzt ein Beitrag zur Erhöhung der Chancengleichheit.
Diese Ziele hat nicht nur die vhb. Was ist das Besondere an Ihrem Ansatz?
Wir setzen ganz auf die Zusammenarbeit der Hochschulen. Wenn die digitale Lehre der Initiative der einzelnen Hochschulen überlassen bleibt, wird das Potenzial der netzgestützten Lehre nicht ausgeschöpft. Attraktive, mediendidaktisch anspruchsvolle digitale Kurse sind kostspielig. Nicht nur kleinere Hochschulen kommen da schnell an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Außerdem: die Beschränkung auf den Wirkungskreis jeweils nur einer Hochschule ist dem Netz wesensfremd. Wenn die Hochschulen zusammenarbeiten und sich darauf einigen, welche Hochschule welche Kurse zu welchen Themen entwickelt und betreut, und wenn diese Kurse dann als Gesamtportfolio allen Hochschulen und allen Studierenden des Landes zur Verfügung stehen, kann wesentlich mehr erreicht werden.
Sie sprachen von Betreuung. Sind die vhb-Kurse keine Selbstlern-Angebote? Setzen Sie nicht vor allem auf die gegenseitige Unterstützung der Studierenden, wie das z.B. in MOOCs geschieht?
In Lernangeboten mit dem Umfang der vhb-Kurse mit einer Workload von 60 bis 90 Arbeitsstunden, zum Teil sogar mehr, wäre eine hohe Abbruchquote zu befürchten, wenn die Lernenden allein gelassen würden oder nur von ihren Mitstudierenden Hilfe erwarten könnten, die zunächst genau so viel (oder eben genau so wenig) vom Thema des Kurses verstehen wie sie selbst. Das zeigen gerade auch die Erfahrungen mit MOOCs. Deswegen bieten die vhb-Kurse den Teilnehmenden eine individuelle Betreuung durch geschulte Tutoren. Diese Tutoren werden von den Kursanbietern in den Trägerhochschulen ausgewählt. Die Kosten einschließlich der Schulung der Tutoren trägt die vhb.
Und wie einigen sich die Hochschulen, wer welche Kurse entwickelt?
Dafür haben wir ein zweistufiges Ausschreibungsverfahren. In der ersten Stufe werden die Trägerhochschulen eingeladen, in Konsortien aus wenigstens zwei Hochschulen kurze Bedarfsanmeldungen für neue Kurse einzureichen. Die Konsortialhochschulen müssen verbindlich zusichern, dass sie den fertigen Kurs anerkennen werden. Dann entscheiden von den Trägerhochschulen gewählte Gremien, welche Kurse gefördert werden. Für die angenommenen Bedarfsanmeldungen erbitten wir von den Konsortien ausführliche Aufgabenbeschreibungen. Die sind dann die Grundlage der eigentlichen Ausschreibung.
Die Kurse des vhb-Programms laufen vollständig über das Netz. Nur wenn für ein bestimmtes Lehrangebot vorgeschrieben ist, dass der Leistungsnachweis in Form einer Klausur erbracht werden muss, spielt Präsenz in der vhb eine Rolle. Wie vereinbaren Sie das mit innovativen Lehr- und Lernformen wie Blended Learning oder Inverted Classroom?
Die Studierenden in vhb-Kursen sind zugleich Präsenzstudierende an ihrer Heimathochschule. Sie nutzen den vhb-Kurs im Rahmen eines Studiengangs, der überwiegend aus Präsenzlehre besteht. Wir bezeichnen das als Blended Learning auf der Makroebene. Außerdem haben viele vhb-Kurse einen Umfang unterhalb der Modulgröße. Das wurde von den Konsortien so gewünscht, weil sie den vhb-Kurs mit einem eigenen Präsenzangebot zu einem Modul verbinden. Wir haben die Erfahrung gemacht: je kleinschrittiger die Verzahnung von netzgestützer Lehre mit Präsenzlehre ist, desto schwieriger wird die hochschulübergreifende Nutzung – jedenfalls dann, wenn es sich um Kurse mit tutorieller Betreuung handelt. Das gilt auch für das Modell des Inverted Classroom, das in einigen Bereichen der vhb bereits praktiziert wird – vor allem in der Medizin. Weitere Vorschläge haben unsere Trägerhochschulen bereits angekündigt.
Wir haben bisher über die Funktionsweise der vhb gesprochen. Welchen Stellenwert hat die vhb heute für das bayerische Hochschulwesen?
Die vhb hat gegenwärtig 31 Trägerhochschulen mit rund 360.000 Studierenden. Das sind 95% aller Studierenden in Bayern. Mehrere hundert bayerische Professorinnen und Professoren engagieren sich als Kursanbietende und Gremienmitglieder in der vhb. Insgesamt haben wir derzeit gut 450 verschiedene Kurse, rund 100 weitere sind in Arbeit. Damit erweitert die vhb das Angebotsspektrum der bayerischen Hochschulen ganz erheblich. Im Studienjahr 2015/2016 können wir über 170.000 Kursbelegungen von weit mehr als 50.000 Studierenden verzeichnen. Seit der Gründung der vhb gab es insgesamt mehr als eine Million Kursbelegungen. Das in vhb-Kursen geleistete Studiervolumen macht derzeit rund 3% des gesamtbayerischen Studiervolumens aus.
Da liegt die Frage nahe: was kostet das, und wer bezahlt das Ganze?
Für die Finanzierung der vhb wurden von 2000 bis einschließlich 2016 insgesamt rund 64,4 Mio. € aufgewendet. Für die Jahre 2017 und 2018 verfügt die vhb über mindestens 6,2 Mio. € p. a. – die Verhandlungen für den Doppelhaushalt dieser Jahre laufen gerade. Diese Mittel wurden und werden ganz überwiegend vom Freistaat Bayern zur Verfügung gestellt. Die Trägerhochschulen, die ihrerseits ja auch vom Staat finanziert werden, entrichten einen eher symbolischen Mitgliedsbeitrag in Höhe von einem Euro je immatrikuliertem Studierenden und Semester.
Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf bei der vhb? Wie sollte sich die vhb weiterentwickeln?
Verbesserungsbedarf gibt es insbesondere bei rechtlichen Rahmenbedingungen, beispielsweise in den Kapazitäts- und Lehrverpflichtungs-Verordnungen. Wenn eine Hochschulen Online-Kurse „importiert“, wird das derzeit in Kapazitätsberechnungen zwar nicht berücksichtigt. Es fehlt aber die Sicherheit, dass das auch so bleibt. Einige Hochschulen sind deshalb beim Import zurückhaltend. Die Anrechnung von netzgestützter Lehre aufs Deputat ist in Bayern grundsätzlich positiv geregelt, allerdings nur als Kann-Regelung. Die Entscheidung liegt bei der einzelnen Fakultät oder Hochschule. Wie wäre es, wenn diejenigen Lehrenden, die für ihre Online-Lehre an einem Qualitätsmanagement wie dem der vhb mitwirken, das Recht erhielten, einen bestimmten Teil ihres Deputats mit netzgestützter Lehre abzudecken? Das Lehrangebot bliebe quantitativ unverändert; die Qualität könnte aber profitieren.
Ist das Qualitätsmanagement der vhb anders als in der Präsenzlehre?
Zusätzlich zur semesterweisen Evaluation durch die Teilnehmenden werden alle vhb-Kurse nach jeweils fünf Durchführungen von je zwei außerbayerischen Experten nach fachlichen, mediendidaktischen und technischen Gesichtspunkten beurteilt. Daraus ergeben sich häufig Vorschläge für Verbesserungen.
Peer-Evaluation von Lehre? Wie kommt das bei den bayerischen Professorinnen und Professoren an?
In der vhb wirken Professorinnen und Professoren mit, denen die Lehre besonders am Herzen liegt. Diesen Lehrenden sind kollegiale Anregungen durchaus willkommen, wie unsere langjährige Erfahrung mit der Peer-Evaluation zeigt. Außerdem stellt die vhb Mittel zur Verbesserung und Aktualisierung ihrer Kurse zur Verfügung. Auf konstruktive Kritik in der Evaluation folgt also seitens der vhb ein konstruktiver Beitrag zur Lösung des Problems.
Zurück zum Verbesserungspotential. Haben Sie weitere Vorschläge?
Auch Deputatsermäßigungen für die Entwicklung qualitätsgesicherter Online-Lehrangebote wären wünschenswert. Sehr wichtig ist auch das Thema Assessment. Bislang ist der Leistungsnachweis in vielen unserer Kurse noch an eine Präsenzklausur geknüpft. Das ist ein Medienbruch und erschwert den hochschulübergreifenden Austausch. Neue Formen der Leistungsmessung werden auch im Rahmen des HFD diskutiert. Wir erhoffen uns davon Impulse für die Weiterentwicklung der vhb.
Zum Schluss die Frage: Was können andere von der vhb lernen?
Wir haben in den 16 Jahren seit unserer Gründung viele Erfahrungen gemacht, positive wie negative, die wir gern mit anderen teilen. Die wichtigste Erfahrung ist aus meiner Sicht: Wenn ein Land will, dass die von ihm finanzierten Hochschulen in der digitalen Lehre kooperieren, muss es die Hochschulen dazu motivieren, und das heißt: das Land muss Mittel für diese Kooperation bereitstellen.
Können die Hochschulen das nicht untereinander regeln – ohne Mitwirkung des Staates?
Bisher ist das noch nirgendwo gelungen. Wir leben in einem System der staatlichen Hochschulfinanzierung, da muss auch die Förderung der hochschulübergreifenden Zusammenarbeit systemkonform finanziert werden. Welche Eigenmittel, die nicht vom Staat kämen, stehen unseren Hochschulen zur Verfügung? Die eingeworbenen Drittmittel hat die Hochschule in der Regel zweckgebunden erhalten und kann sie nicht nach Belieben umwidmen. Ich fürchte: ohne zentrale Finanzierung kommen wir mit der Entwicklung hochschulübergreifender digitaler Lehre nur sehr mühsam voran.
Wie könnte das aussehen?
Bayern zeigt, was ein Land mit der Förderung der Zusammenarbeit seiner Hochschulen in der digitalen Lehre bewirken kann. Andere Länder könnten das genau so. Und wie das zuständige Landesministerium die Zusammenarbeit seiner Hochschulen in der digitalen Lehre stimulieren sollte, so sollte der Bund die länderübergreifende Zusammenarbeit auf diesem Gebiet fördern. Vielleicht hilft eine Analogie: Stellen Sie sich vor, das Erasmus-Programm sollte auf eine Finanzierung umgestellt werden, die die EU-Mitgliedsländer untereinander aushandeln. Wäre es dann noch der große Erfolg? So wie Erasmus von der zentralen Finanzierung lebt, so funktioniert die hochschulübergreifende Zusammenarbeit innerhalb eines Landes dann besser, wenn sie vom Land finanziell motiviert wird. Und in unserem föderalen System könnten Intensität und Ausmaß der länderübergreifenden Zusammenarbeit vom Engagement des Bundes sehr positiv beeinflusst werden.