2. Platz im Essaywettbewerb: Vom Fischer und seiner Frau 2.0: Wünsche zum Ideal der Bildung digital

2. Platz im Essaywettbewerb: Vom Fischer und seiner Frau 2.0: Wünsche zum Ideal der Bildung digital

11.03.15

Das Grimm’sche Fischerpaar wohnt noch heute in einer kleinen Hütte am Meer. Ilse (folgend: I) liest viel über die neuen Zeiten, die auch sie eingeholt haben. Sie wünscht sich, statt Gott zu sein, nur noch das Beste für ihren Sohn, ein Kind des digitalen Zeitalters. Wieder geht dem Fischer (folgend: F) ein Butt ins Netz, der die Erfüllung eines Wunsches anbietet. Erneut kann I nicht widerstehen. Aus ihren Wünschen spricht ihr Ideal der Bildung digital. 

1.    Wunsch: Informations- und Medienkompetenz

F: Bedenke deinen Wunsch dieses Mal gut!

I: Ich wünsche mir nichts mehr als die bestmögliche Bildung für Junior.

F: Wieso musst du dir dafür etwas wünschen? Bildung funktioniert doch bisher ganz gut!

I: Bildung, wie wir sie kennengelernt haben, nützt heute nichts mehr. Ich habe damals Wissen angehäuft: Jahreszahlen in Geschichte, zahllose Werke des Kanons in Deutsch … Mittlerweile gibt es aber so viel zu wissen, dass man gar nicht mehr alles wissen kann! Wichtiger ist, dass unser Sohn lernt, wie er mit dem gesammelten Wissen der Menschheit umgeht!

F: Wie soll das aussehen? Soll ich dem Butt sagen, dass Junior nichts mehr lernen soll?

I: Nein! Sage das Zauberwort „Informationskompetenz“ (nach Ballod 2007)! Ich will, dass unser Sohn beispielhaft an einigen wenigen Gegenständen „problemorientiert“ lernt (siehe Krapp & Weidenmann 2006: 640). Zur Lösung des Problems benötigt unser Kind ganz bestimmtes Wissen (und muss dies auch erkennen!). Sein Lehrer unterstützt ihn dabei, sich effektiv zu informieren und eine Lösung für das Problem zu finden. Dafür werden die Möglichkeiten neuer Informations- und Kommunikationsmedien genutzt, zum Beispiel die Potenziale von Suchmaschinen. So soll Junior lernen!

F will sich zum Butt aufmachen, da ruft ihn seine Frau zurück.

I: Mir ist noch etwas eingefallen! Junior muss die neuen Medien nicht nur nutzen können, um sich Wissen zu verschaffen. Digitale Medien können auch produktiv eingesetzt werden, um Wissen weiterzuvermitteln, zum Beispiel mit Präsentationssoftware oder in Form eines Blogs. Das gehört für Ballod (2007: 290) auch zur Informationskompetenz. Aber es geht um noch mehr: Junior kann lernen, das Digitale für sich arbeiten zu lassen, zum Beispiel Programme zu schreiben, welche die Lösung komplexer Probleme abnehmen. Das lernen schon Grundschüler bei „TechKreativ“[1] an der Uni Bremen! Junior braucht eine umfassende Medienkompetenz!

Ganz wohl ist F nicht, als er dem Butt diesen komplexen Wunsch überbringt. Er ermahnt seine Frau, es bei diesem zu belassen.

2.    Wunsch: informelles Lernen und Identitätsbildung 

Eine Weile geht alles gut. Junior erwirbt in der Schule durch Instruktion die gewünschten Kompetenzen. Eines Tages beobachtet I Junior dabei, wie er sein MySpace-Profil gestaltet. 

I: Sieh mal, wie viel er dabei lernt! Eben hat er einen Freund per Mail gefragt, wie er HTML-Code einbetten kann, damit seine Seite Musik spielt (siehe auch boyd 2008: 123). Toll! An diesen außerschulischen Erfahrungen sollten Lehrer anknüpfen, mehr noch: Solche informellen Lernsituationen (nach BMBF 2010: 13) sollten in die schulische Bildung integriert werden! So lernen Kinder voneinander und bilden sich gegenseitig![2]

F: Nicht noch ein Wunsch an den Butt?!

I: Das ist doch nur eine Kleinigkeit, die er nicht abschlagen kann. Schau doch mal genau, was unser Sohn da tut! Er konstruiert gerade seine Online-Identität. Er spielt mit Farben, Schriften et cetera, um herauszufinden, was ihn als Person am besten ausdrückt (siehe Weber & Mitchell 2008: 27). Die digitalen Medien bieten neue Möglichkeiten, mit einer Montagetechnik am Ausdruck der eigenen Identität zu feilen und diese dabei zu entdecken. Das sollte unbedingt auch in den Unterricht aufgenommen und bewusst reflektiert werden! So kann die Bildung digital auch die Persönlichkeit formen. Schule bildet nicht nur zu den Medien, sondern auch durch die Medien, sprich: Sie formt durch den Umgang mit digitalen Medien die Persönlichkeit!

F: Wie soll das gehen?

I: Das MySpace-Beispiel hast du ja schon vor Augen. Unser Junge kann verschiedene Modalitäten (für dich: Zeichensysteme wie Bild, Ton, geschriebene Sprache et cetera, lies mal Stöckl 2004) kombinieren. Das geht auch auf Blogs, bei denen eine zeitliche Komponente hinzukommt – also eine Geschichtlichkeit der Identitätskonstruktion, verstehst du? Typische Blog-Einträge sind reflexiv: Ob es um eigene Erfahrungen oder um politische Meinungsäußerung geht – der Blogger und sein Selbst stehen im Vordergrund (das steht in Schildhauer 2014: Kap 9). Oder nimm Chats beziehungsweise virtuelle Welten, in denen viele mit ihrer Identität experimentieren – das geht schon beim Nicknamen los. Wie würde unser Junge sich nennen? Fisherman’sFriend2005? Durch Multimodalität, Interaktivität und die Möglichkeit, zu bestimmen, wie viel man von sich preisgibt, ist das Digitale perfekt für das Ausloten der eigenen Identität! Los jetzt: Wünsche dir informelles Lernen sowie Persönlichkeitsbildung durch den Umgang mit Medien vom Butt!

F eilt ängstlich zum Butt. Die nun dunkel-bedrohlich gefärbte See zeigt ihm, dass er I Einhalt gebieten sollte. Der Butt gewährt mürrisch den Wunsch. Am nächsten Tag lernt ihr Sohn in kooperativen Arrangements und arbeitet nach Is Vorstellungen an seiner Persönlichkeit.

3.    Wunsch: Verantwortungs- und Problembewusstsein

Eines Tages sieht I einen Bericht zum Klimawandel.

I: Sieh dir das an. Wenn das nicht aufhört, werden wir noch ertrinken! Unsere Kinder stehen vor viel größeren Problemen als wir damals. Klimawandel, Hunger, Finanzkrisen – das hinterlassen wir ihnen!

F: Immerhin haben sie ganz andere Möglichkeiten durch die digitalen Medien …

I: Ja, aber sollten unsere Kinder nicht auch dafür sensibilisiert werden, wofür sie eigentlich den Umgang mit den Medien lernen? Doch nicht nur zum Spaß! Es wird in ihrer Verantwortung liegen, diese Probleme zu lösen. Das lernen sie aber nicht, wenn sie nur Präsentationen zu ihren Kinderzimmern erstellen wie im „Digital Bedroom“-Projekt (so geschildert von Weber & Mitchell 2008: 33). Man muss unseren Kindern zeigen, welchen Problemen sie gegenüberstehen, und ihr Verantwortungsgefühl ausbilden. Noch so eine Generation wie unsere können wir nicht gebrauchen. Unsere Kinder müssen nicht nur wissen, mit den neuen Medien effektiv umzugehen, sondern auch, wofür sie diese Möglichkeiten am dringendsten einsetzen sollen! Geh zum Butt – keine Widerrede!

F eilt hinaus. Es stürmt. Der Butt in der aufgewühlten schwarzen See erfüllt auch diesen Wunsch.

4.    Wunsch: Voraussetzungen – digital divide und Medienpädagogik

Als F das Haus betritt, hat I gerade einen Bericht des BMBF[3] zur Zukunft der Bildung gelesen.

I: Ich bezweifle gerade, dass unsere Gesellschaft überhaupt die nötigen Voraussetzungen hat, unsere Kinder so zu bilden, wie ich das will.

F: Wie meinst du das? Heute hat doch jeder Internet … Was willst du noch?

I: Moment! Die Diskussion zum digital divide (dazu Ballod 2007: 54) zeigt, dass selbst in den USA noch ärmere Haushalte ohne Zugang zu digitalen Medien sind (so zumindest Weber & Mitchell 2008: 25). Die digitale Spaltung greift aber noch tiefer – nicht alle Jugendlichen mit Zugang zu digitalen Medien nutzen sie so spielerisch-innovativ wie unser Junge. Vielfach wird doch einfach nur Facebook gecheckt und das war’s (so Buckingham 2008: 14)!

F: Deshalb hast du dir bereits die Bildung von Medienkompetenz gewünscht. Es gibt ja außerdem bereits Projekte wie netzcheckers.net für benachteiligte Jugendliche, die in ihrer Freizeit an das Digitale herangeführt werden. Falls du gerade wieder einen Wunsch ausheckst – lass es lieber gleich bleiben!

I: Aber gerade so etwas müssen wir verstärken! Die Bildung digital muss für alle zugänglich sein, auch wenn kein Computer mit DSL zu Hause steht. Dazu gehört auch, dass alle Schulen die entsprechende mediale Ausstattung erhalten. Wettbewerbe wie „IDEEN BEWEGEN“[2] , die auch Ideen für Unterrichtsprojekte hervorbringen, sind dabei nur der Anfang. Auch in Schulen, die sich bisher gar nicht an Ausschreibungen oder Wettbewerben beteiligt haben, muss ein Bewusstsein für die Notwendigkeit digitaler Medien im Unterricht entstehen.

F: Ilse!

I: Und da sind wir bei der Lehrerbildung: Wir brauchen Lehrer, die über digitale Medien bestens Bescheid wissen. Sie müssen über sämtliche Kompetenzen verfügen, die sie in ihren Schützlingen entwickeln sollen. Auch wenn sie selbst nicht im digitalen Zeitalter geboren worden sind (Prensky 2001 bezeichnet sie als digital immigrants), sollen die Lehrer für die digital natives (so nennt Prensky 2001 unsere Kinder) zudem medienpädagogisch so versiert sein, dass sie entscheiden können, wann der Einsatz digitaler Medien tatsächlich einen Gewinn bringt – und wann vielleicht traditionellere Mittel zum gleichen Ziel führen. Lehrer sollen digitale Medien nicht einsetzen, weil ein Medienfeuerwerk Bestandteil eines „coolen“ Unterrichts ist, sondern weil sie damit bestimmte gerechtfertigte Zwecke verfolgen. Du erinnerst dich an mein Blog-Beispiel …

F: Kein Wunsch an den Butt, oder?!

I: Doch! Wünsche dir eine medienpädagogisch fundierte Lehrerbildung und Maßnahmen gegen den digital divide, damit meine Vorstellungen von der Bildung digital umgesetzt werden können.

F: Aber …

I: !

Epilog: Bildung digital ist (auch) Elternsache!

Kaum hat F den Wunsch in den Sturm gerufen, taucht der Butt aus den haushohen Wellen auf: „Jetzt seid ihr an der Reihe! Nie habt ihr an eure Verantwortung gedacht, immer soll die Schule alles richten! Doch nur ihr könnt Junior unter anderem vor dem WhatsApp-Stress retten – lest einmal Zeinlinger (2014)! Bedenkt auch die Gefahren der rauen Internet-See – ihr müsst ihn das sichere Surfen lehren!“

Wenn I nicht gestorben ist, engagiert sie sich noch heute für die Bildung digital – zum Beispiel am Frühstückstisch, wenn sie Junior erinnert, dass WhatsApp kein Müsli ersetzen kann …

  1. [1] http://techkreativ.de/
  2. [2] I bezieht sich auf sozialkonstruktivistische Lerntheorien (zum Beispiel Krapp & Weidenmann 2006: 631–632)
  3. [3] Vermutlich BMBF (2010)
  4. [4] https://www.i-dbnd.de

Ilse hat unter anderem gelesen:

Ballod, M. (2007). Informationsökonomie – Informationsdidaktik: Strategien zur gesellschaftlichen, organisationalen und individuellen Informationsbewältigung und Wissensvermittlung. Bielefeld: Bertelsmann.
BMBF (2010) (Hrsg.). Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur. Medienbildung für die Persönlichkeitsentwicklung, für die gesellschaftliche Teilhabe und für die Entwicklung von Ausbildungs- und Erwerbsfähigkeit. Bonn/Berlin.
boyd, d. (2008). „Why Youth  Social Network Sites: The Role of Networked Publics in Teenage Social Life.“ David Buckingham (Hrsg.): Youth, Identity, and Digital Media. Cambridge, MA: MIT Press, 119–142.
Buckingham, D. (2008). „Introducing Identity.“ David Buckingham (Hrsg.): Youth, Identity, and Digital Media. Cambridge, MA: MIT Press, 1–22.
Krapp, A, & B. Weidenmann (Hrsg.) (2006). Pädagogische Psychologie. Weinheim: Belz.
Prensky, M. (2001). „Digital Natives, Digital Immigrants.“ On the Horizon 9 (5).
Schildhauer, P. (2014). Textsorten im Internet zwischen Wandel und Konstanz: Eine diachrone Untersuchung der Textsorte Personal Weblog. Dissertation. Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg.
Stöckl, H. (2004). „In Between Modes: Language and Image in Printed Media.“ E. Eija Ventola et al. (Hrsg.): Perspectives on Multimodality. Amsterdam: Benjamins, 9–30.
Weber, S. & C. Mitchell (2008). „Imaging, Keyboarding, and Posting Identities: Young People and New Media Technologies.“ David Buckingham (Hrsg.): Youth, Identity, and Digital Media. Cambridge, MA: MIT Press, 25–47.
Zeinlinger, T. (2014). „Wenn WhatsApp das Telefonieren ablöst.“ derStandard.at, 16. Oktober 2014. http://derstandard.at/2000006605938/Wenn-WhatsApp-telefonieren-abloest (27.10.2014).

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