Peer-to-Peer-Strategieberatung: Selbstbericht der JGU Mainz

Peer-to-Peer-Strategieberatung: Selbstbericht der JGU Mainz

26.01.21

祝 鹤槐 https://www.pexels.com/de-de/foto/536922/

Die Peer-to-Peer-Strategieberatung geht in die vierte Runde!  Wir, Barbara WagnerLavinia Ionica und Anne Prill sind gemeinsam mit Experten*innen, den sogenannten Peers, von Nord nach Süd und von Ost nach West in Deutschland unterwegs, um den #DigitalTurn an den Hochschulen zu begleiten. Virtuell aber auch vor Ort beraten wir die sieben teilnehmenden Hochschulen zu ihren spezifischen Herausforderungen und Zielen. Dabei nehmen wir euch mit und zeigen die einzelnen Schritte und Phasen des Beratungsprozesses auf. Im Rahmen der Blogreihe „Peer-to-Peer-Strategieberatung – Driving the Digital Turn“ stellen wir euch die Hochschulen und den Beratungsprozess vor: Vom Kick-Off-Workshop über den Selbstbericht der Hochschulen, die Beratungstage, den Empfehlungsbericht der Peers, bis hin zum Action-Plan und der Abschlussveranstaltung nehmen wir euch mit. Neugierig geworden? Eine Beschreibung der Peer-to-Peer-Strategieberatung findet ihr auf dieser Seite, weiterführende Informationen im Allgemeine Leitfaden zur Peer-to-Peer-Strategieberatung

Der zweite Blogbeitrag aus der Reihe „Peer-to-Peer-Strategieberatung – Driving the Digital Turn“ nimmt den ersten großen Meilenstein im Rahmen des Beratungsprozesses in den Blick, die Selbstreflexion. Dafür begeben wir uns lediglich auf die gegenüberliegende Seite des Rheins an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist eine der sieben teilnehmenden Hochschulen, die das HFD in der 4. Runde ihrer Peer-to-Peer-Strategieberatung begleitet. 

Für die Selbstreflexion stellt das Hochschulforum Digitalisierung einen Leitfaden zur Verfügung, den wir hier verlinkt haben. Das hier dargestellt Beispiel guter Praxis gibt Einblicke in Potenziale der Selbstreflexion und die Vorgehensweise bei der Erstellung, ein Prozess der von den Hochschulen individuell gestaltet wird. 

Blick in den Spiegel. Der Weg zur Selbstreflexion als zentrales Element strategischer Entwicklung

Im Frühjahr 2019 bewarb sich die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) erfolgreich um die Teilnahme an der dritten Runde der strategischen Peer-to-Peer-Beratung. Der geplante Peer-Besuch im März 2020 musste jedoch Pandemie-bedingt entfallen. Die JGU ist daher die erste Universität, die an zwei aufeinanderfolgenden Beratungsrunden teilnimmt. 

1. Ziele und Potenziale der Selbstreflexion

Die Selbstreflexion spielt in der Peer-to-Peer-Strategieberatung eine zentrale Rolle. Strukturell betrachtet dokumentiert sie den aktuellen Stand des digitalen Wandels in Studium und Lehre einer Hochschule, indem sie die jeweilige Ausgangssituation in Bezug auf institutionelle Rahmenbedingungen, das grundlegende Lehrprofil sowie strategische Zielsetzungen im Hinblick auf den digitalen Wandel skizziert. Darauf aufbauend werden konkrete hochschulspezifische Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven formuliert. Damit soll die Selbstreflexion sowohl hochschulintern genauso wie für das Team der Peers als Ist-Soll-Analyse der Hochschule dienen. Sie erfüllt damit eine zentrale Funktion in der Vorbereitung des Beratungsbesuchs.

Kommunikativ betrachtet kann sie – wie im Falle der JGU – auch ein Instrument der Beteiligung sein, insofern bei ihrer Erstellung Strukturen und unterschiedliche Perspektiven der Organisation in einem diskursiven Prozess gemeinsam mit Akteur:innen aus Studium, Lehre und Verwaltung in den Blick genommen werden.

In diesem Blogbeitrag beleuchten wir diesen kommunikativen Prozess und zeichnen entscheidende Meilensteine auf dem Weg zur Selbstreflexion der JGU nach.

Emre Can https://www.pexels.com/de-de/foto/licht-kunst-mauer-abstrakt-2418435/

2. Akteurinnen und Akteure

Auf Seiten der JGU begleitet eine Projektgruppe bestehend aus Vertreter:innen aus Hochschullehre und -didaktik, Rechenzentrum, Medienproduktion und zentraler Verwaltung den Peer-to-Peer-Prozess als zentraler Think Tank. Ihre Zusammensetzung geht auf eine Arbeitsgruppe des Gutenberg Lehrkollegs zurück, das als zentrale wissenschaftliche Einrichtung Lehre und akademische Lehrkompetenz an der JGU fördert und die Hochschulleitung in strategischen Fragen von Lehre und Studium berät. Auf Initiative des Vizepräsidenten für Studium und Lehre wurde diese Arbeitsgruppe durch weitere Expert:innen aus der Mitte der Universität ergänzt und als Projektgruppe für den Peer-Prozess benannt. In Abstimmung mit der Hochschulleitung formte sich hier im Verlauf des Prozesses eine Vision für die Gestaltung des digitalen Wandels in Lehre und Studium. Entscheidend für das Zusammenwirken der Beteiligten waren dabei die vielfältigen Perspektiven aus Lehrpraxis und wissenschaftsstützendem Bereich, aus Didaktik und Technik. Gemeinsam konnten Problembereiche zügig identifiziert, Lösungsansätze skizziert und ihre Umsetzbarkeit reflektiert werden. Der Klärung von Zielperspektiven kam in den gemeinsamen Arbeitssitzungen besondere Bedeutung zu.

Zur operativen Begleitung der Projektgruppe wurde am 01. Oktober 2019 die „Koordinierungsstelle Digitaler Wandel in Lehre und Studium“ installiert. Als organisatorisches Zentrum des Beratungsprozesses an der JGU wurde sie mit zwei Mitarbeiter:innen besetzt,[1] die praktische Lehrerfahrung mit der Perspektive auf vorhandene Infrastrukturen vereinten. Zentrale Aufgabe der Koordinator:innen ist dabei die operative Prozessbegleitung. Diese beinhaltet die organisatorische Unterstützung der quartalsweise angelegten, je zweieinhalbstündigen Reflexionsworkshops der Projektgruppe, die Organisation verschiedener Beteiligungsevents zur digitalen Hochschullehre sowie den Aufbau einer Studierendengruppe, den Gutenberg Changemakern, die den Prozess durch eine sichtbare Studierendenperspektive bereichert und die Entwicklung des Digitalen Wandels in Studium und Lehre als permanente Fokusgruppe mit wechselnden Mitgliedern kritisch begleitet. Die gebündelte Expertise der Koordinator:innen im Bereich qualitativer und quantitativer Methoden der Sozialwissenschaften eröffnete die Möglichkeit, über die Koordinierungsstelle in kürzester Zeit zusätzlich fundierte Informationen zu erschließen und zusammenzutragen. Die Koordinierungsstelle bildet auf operativer Ebene einen social hub, indem sie Kontakte zu verschiedenen Projekten mit Digitalisierungsbezug an der JGU und in ihrem Umfeld zusammenführt. Zugleich trägt die Koordinierungsstelle die redaktionelle Verantwortung für die Selbstreflexion, in der sie Ergebnisse der Projektgruppensitzungen mit Erkenntnissen aus eigenständiger Organisationsforschung verknüpft.

Die zentrale Initiative zur Beteiligung an der Peer-to-Peer-Beratung ging von der Hochschulleitung der JGU aus. Der Vizepräsident für Studium und Lehre, Univ.-Prof. Dr. Stephan Jolie, übernahm zugleich die Projektleitung der Koordinierungsstelle und den Vorsitz der Projektgruppe digitaler Wandel in Lehre und Studium. Durch diese dichte Anbindung konnte über den gesamten Prozess eine nachhaltige Orientierung an der universitären Gesamtstrategie abgesichert werden.

Architekturfassade

3. Meilensteine

Für die Entwicklung der Selbstreflexion war ein Zeitraum von vier Monaten angesetzt. Drei Meilensteine waren dabei nach unserer Erfahrung von besonderer Bedeutung: 1. Die Entwicklung eines Forschungsdesigns für eine strikt fokussierte und pragmatisch umsetzbare Organisationsforschung; 2. Analyse und Diskussion des so gewonnenen Materials in der Projektgruppe; 3. die abschließende Strukturierung des Berichts im Wechselspiel von Koordinierungsstelle und Projektgruppe

3.1 Organisationsforschung I: Forschungsdesign

Den ersten Meilenstein im Oktober 2019 bildete das Forschungsdesign für die explorative, qualitativ-quantitative Studie zur Erforschung der Organisationskultur in Bezug auf digitales Lehren und Lernen ausgehend von einer bewährten Methodenkombination zur Erforschung von Lebenswelten und Interaktionsbeziehungen. Der Mixed-Methods-Ansatz umfasste offene Interviews mit Lehrenden und Studierenden, die Einblicke in die subjektiven Wahrnehmungen Digitaler Lehre und kultureller Gegebenheiten in Bezug auf digitales Lehren und Lernen ermöglichen sollten. In diesem Zusammenhang wurden 25 Interviews geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Den quantitativen Teil des Designs bildete eine explorative Netzwerkanalyse, die die Interaktionsbeziehungen zwischen Personen, die sich in verschiedener Hinsicht mit digitaler Hochschullehre befassen, identifizieren und als Community of Practice darstellbar macht und dadurch u.a. Engstellen des Informationsflusses aufdeckt. Mit dem Ziel, das Gefüge der Interaktionsbeziehungen zu erfassen, wurden zunächst Daten aus universitär geförderten Projekten zur innovativen digitalen Lehre herangezogen und mit Angaben zu Kooperationen aus den Interviews angereichert. Erweitert wurde diese Datenbasis auf der von der Koordinierungsstelle im Dezember 2019 organisierten Informations- und Austauschveranstaltung „Meet and Eat: Digitale Hochschullehre“: Gut fünfzig Teilnehmer:innen aus Hochschullehre und Supporteinrichtungen ergänzten das bis dahin entstandene Netzwerkdiagramm durch ihre Interaktionsbeziehungen. Die zusätzlich identifizierten Netzwerkknoten wurden in die Netzwerkanalyse zurückgespielt und ergänzten diese durch Informationen zu Kooperationen und Netzwerkdichte.

3.2 Organisationsforschung II: Analyse

Der zweite Meilenstein bestand im Abschluss der Analyse im Dezember 2019.  Ziel war es einerseits, mit den Interviews die unterschiedlichen fachkulturell geprägten Wahrnehmungen des Themas digitale Lehre als Indizien für zugrundeliegende regulierende Faktoren innerhalb der Organisation zu erkennen und diese Faktoren offenzulegen. Andererseits sollte das Netzwerk von Personen, die sich unter verschiedenen Aspekten (Anwendung, Weiterentwicklung, Unterstützung) mit digitaler Lehre befassen, selbst mit der Netzwerkanalyse sichtbar gemacht werden – also die Community of Practice digitaler Lehre und ihre Aktivitäten  Das diese Community in unerwarteter Weise über ihre Grenzen vom Anfang des Jahres hinausgewachsen ist, versteht sich im besonderen Hochschuljahr 2020 von selbst.

Durch den Methodenmix wurden sowohl Hemmnisse und Ressentiments gegenüber Phänomenen des digitalen Wandels in Lehre und Studium deutlich als auch konstruktive Initiativen und Entwicklungspotentiale innerhalb der Organisation. Die multiperspektivische Kulturbeschreibung zeigte dabei zunächst, wo Informationen und Erfahrungen innerhalb des sozialen Netzwerks verloren gingen. Darüber hinaus konnten Einblicke in die Wahrnehmung von Infrastrukturproblemen und in soziale Mechanismen gewonnen werden, die geeignet sind die Zahl innovativer Lehrformate zu reduzieren. Die Ergebnisse wurden in der Selbstreflexion fokussiert dargestellt. In den vorhergehenden Reflexionsgesprächen der Projektgruppe wurden sie intensiv diskutiert. So konnten Grundsatzfragen in ihrem organisatorischen Kontext adressiert werden: Etwa wie Anreizsysteme für innovative Lehre gestaltet sein müssen, um Wirkung zu entfalten. In Diskussionen mit den Changemakern lieferten die Ergebnisse eine wichtige Grundlage, um Probleme aus studentischer Perspektive zu reflektieren und Desiderate zu ergänzen. Die Studierendenperspektive wurde in die Projektgruppe zurückgespielt und in die weitere Entwicklung des Berichts aufgenommen.

3.3 Berichtsentwicklung

Den dritten Meilenstein bildete der erste Berichtsentwurf der Koordinator:innen im Januar 2020, der in intensiver Rückkopplung mit der Projektgruppe und der Hochschulleitung bis Mitte Februar 2020 zu einer Finalfassung ausgearbeitet wurde. Die Entwicklung der Selbstreflexion gestaltete sich als kommunikativer Prozess, in der Koordinierungsstelle, Projektgruppe und Hochschulleitung in intensivem Austausch über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen die Finalfassung entwickelten.

Die Koordinierungsstelle brachte den Ist-Stand auf Basis der Datenanalyse und den ersten Berichtentwurf ein, die von der Projektgruppe reflektiert und kommentiert wurden, was zu einer fundierten multiperspektivischen, und dadurch erkenntnisreichen Analyse der Organisationskultur führte. Dabei wurden in der Projektgruppe insbesondere Zielperspektiven entwickelt, die von der Hochschulleitung reflektiert und durch klare Schwerpunkte im Sinne der Gesamtstrategie abgerundet wurden.

Gewschungene Treppe

4. Erkenntnisse und Erfahrungswerte

Der wertvollste Beitrag der Selbstreflexion besteht unseres Erachtens nach im Prozess der intensiven Auseinandersetzung der Universität mit sich selbst, ihrem Ist-Stand und ihren Zielen: So wurde ein kondensiertes Gesamtbild der Ausgangssituation mit Blick auf den digitalen Wandel in Lehre und Studium erarbeitet, das zuvor nur fragmentarisch vorlag. Dabei wurden nicht nur Problemfelder im soziokulturellen Bereich – i.e. Ressentiments und nur bedingt wirksame Anreizsysteme – oder im Infrastrukturbereich – wie mediale Hörsaalausstattung oder Netzabdeckung – aufgedeckt, sondern auch die Einschätzung des Lösungsbedarfs offensichtlich. Diese Erkenntnisse förderten nicht nur die Schärfung des Problembewusstseins in Bezug auf den Digitalen Wandel in Lehre und Studium, sie trugen zugleich zur Entwicklung erster Lösungsansätze bei. Der Diskussion des universitären Selbstverständnisses kam angesichts der Herausforderung digital bedingter Veränderungen eine besondere Bedeutung zu. Als Ergebnis vieler Gespräche kristallisierte sich ein deutliches Bekenntnis zum Primat der Präsenzuniversität heraus, die die Chancen des digitalen Wandels nicht in der Förderung von Distanzlehre sondern in der qualitätvollen Erweiterung und Weiterentwicklung von Formaten des direkten Austauschs erkennt.

Als relevante Erfahrungswerte aus der viermonatigen Arbeitsphase an der Selbstreflexion treten vor allem die heterogene Zusammensetzung der Projektgruppe mit enger Einbindung der Hochschulleitung und einer Studierendengruppe sowie der straffe Zeitplan, der ein thematisches Zerfasern nicht zuließ, positiv hervor.

Ein wichtiges Resultat der Prozessarbeit um die Selbstreflexion war die deutliche Artikulation eines Selbstverständnisses, das nicht in Abhängigkeit des digitalen Wandels steht, der nur als extrinsisch verursachte und somit tendenziell bedrohliche Notwendigkeit wahrgenommen wird, sondern Grundlage einer bewussten Gestaltung des digitalen Wandels ist. Die Stärke des Prozesses bestand dabei insbesondere im textorientierten und damit dokumentierten Austausch verschiedener Akteursebenen, in dem die Perspektive der Lehrpraxis genauso Berücksichtigung fand wie die Perspektive des infrastrukturellen und didaktischen Supports und der strategischen Orientierung der Universität als Ganzer. So wurden Zielperspektiven nicht abstrakt gesetzt, sondern mit der gelebten und erlebten Kultur in Lehre und Studium abgestimmt; Entwicklungsziele wurden nicht allein im Horizont unmittelbarer Umsetzbarkeit aufgesteckt, sondern mit strategischen Zeiträumen hinterlegt. 

Abschließend zeigt die durch die Selbstreflexion getriebene eingehende Beschäftigung mit den unterschiedlichen Facetten digitalen Wandels an der JGU Mehrwerte über die Vorbereitung des Peer-Besuchs hinaus: Sie hat sich als Prozess und Instrument analytischer Selbsterkenntnis erwiesen und damit zugleich als willkommene Einladung zur Entwicklung erster Lösungsansätze, die insbesondere die kurzfristige Umstellung auf ein vollständig digitales Sommersemester enorm unterstützte.

 

Fußnoten:

[1] Dabei handelt es sich um 50% Stellen. Angesichts der unerwarteten Pandemie-bedingten Verlängerung des Gesamtprozesses kam es nach Abschluss der ursprünglichen Selbstreflexion zu einem personellen Wechsel, der für die geschilderten Prozesse unerheblich ist, der Vollständigkeit halber hier aber Erwähnung finden soll.

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