Augmented Reality in der Hochschullehre für Bauingenieur*innen: Ein leichtgewichtiger Ansatz

Augmented Reality in der Hochschullehre für Bauingenieur*innen: Ein leichtgewichtiger Ansatz

09.01.20

Informationen zu einer Station

Heinrich Söbke und Mario Wolf von der Bauhaus-Universität Weimar stellen ein digitales Lernszenario mittels Augmented Reality vor. Dabei wird eine Vor-Ort-Begehung durch ein digitales Bildungswerkzeug zur interaktiven Erfahrung für Studierende und somit qualitativ aufgewertet.

Ein Beispiel Augmented Reality in der Hochschullehre

Vom Sinn und Zweck digitaler Bildungswerkzeuge

Die Digitalisierung der Hochschullehre kennt verschiedene Vorgehensweisen. Bei einem Top-Down-Vorgehen werden die Rahmenbedingungen für den Einsatz digitaler Bildungswerkzeuge auf übergeordneter Ebene geschaffen, hierzu gehört beispielsweise die Einführung eines Lernmanagementsystems für die ganze Hochschule. Hingegen ist das sogenannte Bottom-Up-Vorgehen durch die Initiative der Lehrenden gekennzeichnet, die den Einsatz eines digitalen Bildungswerkzeugs selbst planen und begleiten. Digitale Bildungswerkzeuge eignen sich nur dann für den Bottom-Up-Ansatz, wenn alle technischen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben sind bzw. sich durch die Lehrenden selbst leicht erbringen lassen. Der Einsatz eines Bildungswerkzeuges mit eher geringen technischen und organisatorischen Voraussetzungen sorgt für niedrige Einsatzschwellen: nur einE LehrendeR muss willens sein, den Aufwand für den Einsatz auf sich zu nehmen. Stellt sich das Werkzeug als sinnvoll heraus, kann es leicht von weiteren Lehrenden adaptiert werden, es erweitert dann den Fundus digitaler Bildungswerkzeuge, der für eine qualitative Verbesserung der Lehre zur Verfügung steht. Im Folgenden wird daher der auf Ebene eines von Lehrenden initiierten Einsatzes eines digitalen Bildungswerkzeuges vorgestellt.

Einsatz von Augmented Reality im Bauingenieurwesen

Bauingenieurwesen ist eine Disziplin, die sich mit Planung, Bau und Betrieb von Bauwerken, wie beispielsweise Gebäuden, Straßen, Brücken oder Kläranlagen beschäftigt. Das Bauhaus-Institut für zukunftsfähige Infrastruktursysteme (b.is) der Bauhaus-Universität Weimar konzeptioniert insbesondere Systeme technischer Infrastruktur, wie Abwasserentsorgung, Verkehrssysteme und Energieversorgung. Technische Infrastruktur ist eine Disziplin, bei der insbesondere Lernerfolge durch die praktischen Eindrücke einer Begehung der in der realen Welt vorhandenen Bauwerke bzw. deren Umgebung erzielt werden können.

Daher wird in der Lehrveranstaltung Siedlungswasserwirtschaft eine Begehung des Wohngebietes „Neues Bauen am Horn“ durchgeführt. Das Wohngebiet aus ca. 40 vorwiegend Einfamilienhäusern entstand nach der Jahrtausendwende auf einem aufgegebenen russischen Kasernengelände in Weimar und wird jetzt als Anschauungsobjekt für die Herausforderungen der Planung von technischer Infrastruktur genutzt. Anschaulich kann die Divergenz von hehren Planungsansätzen und tatsächlichen Realisierungsnotwendigkeiten gezeigt werden. Die Begehung ist ein Teil einer Doppel-Lehreinheit (2 mal 90 min), die aus einer Einführungsvorlesung, der Begehung und der abschließenden gruppenbasierten hypothetischen Planung der Abwasserentsorgung für das Wohngebiet besteht.

Die Einführungsvorlesung vermittelt die Grundlagen der später durchzuführenden gruppenbasierten Planung und soll insbesondere den Wahrnehmungsschwerpunkt der Studierenden für die folgende Begehung schärfen. Die Begehung wurde bisher von den Lehrenden geführt und soll Lerninhalte praxisorientiert direkt vor Ort vermitteln. Jedoch ergab sich bei den bisherigen Begehungen der Eindruck, dass sich nur ein Teil der Studierenden aktiv mit den Problemen auseinandersetzt und die Hinweise der Lehrenden aufnimmt. Ein anderer Teil der Studierenden zog es vor, eher passiv der Gruppe zu folgen. Daher kam die Idee auf, eine mobile ortsbezogene App zur Unterstützung die Begehung einzusetzen: die Form einer „digitalen Schnitzeljagd“ nutzend, sollte die Aktivierung der Studierenden verbessert werden.

Das didaktische Szenario

Eingesetzt wurde die App PlayVisit (Geomotion Games, 2019). Die App ist Browser-basiert und stellt daher wenig Anforderungen an die Hardware. Die App unterstützt kein Video-See-Through-Augmented-Reality (AR), vielmehr ergänzen die auf dem Handy dargebotenen ortsspezifischen Informationen die aktuelle reale Umgebung. Auch in der gewählten Variante wird AR für derartige Vor-Ort-Begehungen als lernförderlich gesehen, da die realen Bauwerke mit zusätzlichen Informationen erläutert werden und sich so beispielsweise aus der Sicht der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens Lernprozesse unterstützen lassen (Mayer & Fiorella, 2014).

Um einen lernförderlichen sozialen Kontext zu schaffen, wurden die Studierenden gebeten, in Gruppen zu dritt die App-geführte Begehung durchzuführen. Die Mitglieder einer Gruppe haben jeweils unterschiedliche Rollen: App-BedienerIn, ProtokollantIn und FührendeR bzw. VerkehrssicherheitsbeauftragteR. Die Begehung soll auch die nachfolgende hypothetische Entwässerungsplanung für das Baugebiet vorbereiten und besteht aus zehn Stationen. Davon sind acht Stationen fachlich motiviert, während an zwei Stationen historische Inhalte illustriert werden (Abbildung 1). Stationsbeispiele sind der Hochpunkt und Tiefpunkt des Gebiets (wichtig bei der Entwässerungsplanung ist es, das natürliche Gefälle zu nutzen, um nicht dauerhaft Energie für Pumpen von Abwasser aufwänden zu müssen), eine Versickerungsmulde zur Ableitung von Regenwasser sowie Übergabeschächte, die für jedes Grundstück zu planen sind. Die Informationen, die an jeder Station gegeben werden, sind dreigeteilt (Abbildung 2): Beim Erreichen einer Station wird diese durch Text und eine illustrierende Abbildung vorgestellt. Über eine folgende Multiple-Choice-Frage soll eine Aktivierung der Studierenden erfolgen. Auf einem Abschlussbildschirm wird die Frage und ihre Antworten erläutert. Die Zeit für die Begehung ist auf 60 min beschränkt. Damit die Studierenden nicht in einer großen Gruppe durch das Baugebiet gehen, gibt es mehrere Routen. Jeder Gruppe wird eine Route zugeteilt. Während der Begehung füllen die Studierenden derzeit ein noch papierbasiertes Protokoll aus, in dem für jede Station der Name und die Schlüsselinformationen zu erfassen sind. Das Protokoll dient dazu, die Studierenden zur Beschäftigung mit den Inhalten der jeweiligen Stationen anzuhalten und in der Folge Lernprozesse auszulösen. Am Ende der Begehung wird mit Hilfe der durch die Fragen erreichten Punkte sowie der benötigten Zeit die erfolgreichste Gruppe ermittelt.

Die begleitend durchgeführte explorative Erhebung mit Hilfe eines Fragebogens, des genannten Protokolls und einer Fokusgruppendiskussion führte zu durchweg positiven Kommentaren. Die Studierenden begrüßen den Einsatz einer solchen App und geben an, dass sie den Einsatz sowohl als sinnvoll erachten als auch, dass sie durch den Einsatz lernen.

Diskussion

Der vorgestellte Ansatz wird sowohl von den Lehrenden als auch den Studierenden sehr positiv bewertet. Jedoch sind einige Randbedingungen zu beachten. Eines der größten Defizite des vorgestellten Ansatzes ist die fehlende formale Evaluation der Lernergebnisse. Lizenzkosten sind eine andere Randbedingung, die hier durch eher geringe Teilnehmerzahlen (< 25 Studierende) nicht angefallen sind. Über die Lizenzkosten hinaus ist bei mehr Studierenden (> 50 Studierende) zu prüfen, ob alle synchron in einer Lehrveranstaltung die Begehung durchführen können oder ob das Gebiet dann überfüllt ist. Weiterhin haben die Studierenden hier eigene Endgeräte (Smartphones) mit eigener Datenrate genutzt. Bisher gab es darüber keine Klagen, was auch durch den nicht übermäßig großen Datenverbrauch der App begünstigt worden sein könnte. Werden die angezeigten Informationen umfangreicher, ist die Nutzung eines Tablets vorteilhaft. Ebenfalls einschränkend zu sagen ist, dass eine solche Begehung zum Teil wetterabhängig ist. Daher ist ein derzeitiger Untersuchungsgegenstand die Übertragung einer solchen Begehung in miteinander verknüpfte 360°-Videos als Alternative zur App-geführten Begehung. Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit von Begehungsinhalten und verknüpfter 360°-Videos ist eine Übertragung zwischen den beiden Medien eher als handwerkliche Aufgabe anzusehen. Des Weiteren ist aus administrativer Sicht noch zu klären, welche unfallversicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen sind.

Insgesamt ist der vorgestellte Ansatz im Sinne einer Realisierbarkeit aus mehreren Gründen als leichtgewichtig – also mit wenig Aufwand und individuell durchführbar –  anzusehen:

  • Für die Lehrveranstaltung muss seitens des Lehrenden weder Hardware noch Software zur Verfügung gestellt werden.
  • Die Bereitstellung der Inhalte einer Begehung ist einfach möglich über das Administrationssystem der genutzten App. Die Vorbereitung inklusive Bereitstellung aller Inhalte sollte in einem Arbeitstag erledigt sein.
  • Die genutzte AR-Variante ist technisch vergleichsweise einfach zu realisieren durch lokationsbasierte Informationen, die auf einem separaten Bildschirm dargestellt werden. Es muss keine (aufwändigere) Ergänzung von Live-Bildern stattfinden.

Die Beschränkung der Gruppengröße auf drei Mitglieder ist u.a. das Ergebnis einer zuvor durchgeführten qualitativen Studie, in der alle Gruppen mit mehr als drei Mitgliedern weniger Stationen besuchten als der Rest der Gruppen (Söbke, Baalsrud Hauge, Stefan, & Stefan, 2019). In dieser Studie, im Rahmen einer Präsenzveranstaltung des weiterbildenden Fernstudiums Wasser und Umwelt (Raesfeld, Springer, & Londong, 2016) durchgeführt, zeigte sich ein weiterer Effekt einer solchen App-geführten Begehung: sie ist geeignet, die Mitglieder der Gruppen, die sich zum großen Teil der Veranstaltung zu Semesterbeginn noch nicht kannten, miteinander ins Gespräch zu bringen.

Zusammenfassung

Digitalisierung der Lehre kann mitunter die hochschulübergreifende Bereitstellung von Ressourcen erfordern, auf die einzelne Lehrende wenig Einfluss haben. Ein Beispiel ist die hochschulweite Versorgung mit WLAN, deren Bereitstellung initial große technische und organisatorische Aufwände erfordert. Es gibt aber Ansätze, bei denen Lehrende das Heft des Handelns individuell in der Hand haben, wie der hier beschriebene Fall einer App-geführten Begehung zeigt. Durch Kreativität und initiales Engagement ist es gelungen, mit Hilfe eines digitalen Lernwerkzeugs ein zuvor analoges Lernszenario qualitativ aufzuwerten. Die eingesetzte ortsbasierte App bringt die Studierenden in eine aktive Rolle und scheint auch durch Gamification-Ansätze wie Wettbewerb die Motivation zu erhöhen. Bei Wiederholungen der Lehrveranstaltung ist nur noch mit wenig Aufwand zu rechnen. Derartige leichtgewichtige Ansätze helfen dabei, die Digitalisierung der Lehre von einer Ja-/Nein-Entscheidung in Richtung eines schrittweisen Prozesses zu verschieben, ersetzen aber keine strategischen Planungen der Hochschule für die Digitalisierung der Lehre.

Referenzen

Geomotion Games. (2019). PlayVisit. Abgerufen 12. März 2019

Mayer, R. E., & Fiorella, L. (2014). 12 Principles for Reducing Extraneous Processing in Multimedia Learning: Coherence, Signaling, Redundancy, Spatial Contiguity, and Temporal Contiguity Principles. In The Cambridge Handbook of Multimedia Learning (S. 279–315). Cambridge University Press.

Raesfeld, U., Springer, C., & Londong, J. (2016). Das Fernstudium „Wasser und Umwelt“ an der Bauhaus-Universität Weimar. Wasser und Abfall, (12), 19–23.

Söbke, H., Baalsrud Hauge, J., Stefan, I. A., & Stefan, A. (2019). Using a Location-based AR Game in Environmental Engineering. In E. van der Spek, S. Göbel, E. Y.-L. Do, E. Clua, & J. Baalsrud Hauge (Hrsg.), Entertainment Computing and Serious Games – ICEC -JCSG 2019 LNCS 11863 (S. 7–10). Springer.

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