Südkoreas digitale Hochschulen: Pauken für die vierte industrielle Revolution

Südkoreas digitale Hochschulen: Pauken für die vierte industrielle Revolution

06.12.19

Gangnam, Seoul, Südkorea

High Tech ist das Aushängeschild Südkoreas. Für den asiatischen Raum ist die Fortschrittlichkeit des Landes in der Online-Bildung an den Hochschulen beispielhaft. Doch die Anforderungen des digitalen Zeitalters machen Ansätze erforderlich, die nicht allein durch Technik gelöst werden können. Der Beitrag von Lisa Messenzehl porträtiert die digitale Hochschulbildung Koreas im Spagat zwischen Technologie und Konfuzianismus, Wettbewerb und Open Education.

Die linke Hand von Jiyoon hüpft mit Leichtigkeit über den Hals seines Instruments. Seine dichten, goldbraun gefärbten Haare fallen ihm bis ins Gesicht. Er sieht zufrieden aus. Der 41-jährige trägt kurze Hose, Socken, Badeschlappen und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck «I’m feeling good». Jiyoon, Gitarrist, aufgewachsen in Seoul, spielt in einem der Übungsräume am Department of Jazz and Contemporary Music, welches zur Seoul Digital University gehört. Es ist ein Dienstag im September. Draußen pulsiert die koreanische Metropole in der Nachmittagshitze, doch in das Untergeschoss des Gebäudes mit einem Dutzend Stockwerken dringt kein Tageslicht. Hier ist es angenehm kühl. Department of Jazz and Contemporary Music Seoul Digital University

Vor gut zwei Jahren hat Jiyoon hier seinen Bachelor abgeschlossen. Neben seinen Bands arbeitet er jetzt als Betreuer für die Studierenden, online als Tutor und offline als Koordinator für die Probenräume. Seine Bildungslaufbahn ist typisch für Absolventen einer Online-Hochschule in Korea, meist wird der digitale Weg für ein weiterführendes Studium gewählt. Zuerst habe er zwei Jahre an einer normalen Universität in Seoul Musik studiert, und meist sei er faul gewesen, erzählt er. Seine Familie hatte mit Musik nichts am Hut. Dennoch habe er sich bis zum Associate Degree geschleppt, das nach zwei Jahren erreicht werden kann. Einige Jahre später, so Jiyoon, habe er die Vorteile entdeckt, welche ein Online-Studium ihm bat: er konnte seine Schwerpunkte selbst wählen und auf seine Interessen abstimmen. Er konnte Lernvideos fünfmal anschauen, zuhause oder unterwegs, wenn er die Inhalte wiederholen wollte. Außerdem spielte ihm sein Alter in die Hände: Er wusste nun besser was er lernen wollte und konnte sich deshalb auch besser darauf konzentrieren, gesteht er mit einem Augenzwinkern. Der Workload des Studiums sei aber hoch gewesen.

Am heutigen Nachmittag sind keine Studierenden hier, was normal ist. 700 Studierende sind am Departement eingeschrieben, aber weniger als zehn Prozent kommt gelegentlich in die Übungsräume. Es ist ein freiwilliges Angebot, das die meisten gar nicht nutzen können, da sie nicht in Seoul wohnen. Kein einziges Mal müssen sie hierherkommen. Das Studium ist komplett online, auch für die anderen 40.000 Studierenden der Hochschule.

Lebenslanges Lernen

Die Altersspanne der Studierenden am Departement of Jazz and Contemporary Music ist groß. Von der 18-jährigen High-School-Absolventin bis zum 70-jährigen pensionierten Musiker ist alles dabei, sagt Professor Bumjoon Lee, der für das Studienprogramm verantwortlich ist. Auch Mönche, Priester und Nonnen gehören zur Zielgruppe. Die Studienrichtung ist ein Paradebeispiel für lebenslanges Lernen. Die Heterogenität der Studierenden sei aber auch eine Herausforderung, bemerkt Bumjoon Lee, denn die Bedürfnisse seien sehr unterschiedlich. Gelernt wird mit Videos, interaktiven virtuellen Seminaren und klassischen Online-Aufgaben, welche Learning-Management-Systeme zu bieten haben. In praxisorientierten Fächern wie Musik nehmen die Studierenden etwa auf, wie sie ihr Instrument spielen und zeigen ihr Können per Video-Upload. Andere Bereiche mit Anwendungsbezug, etwa das Departement of Childhood Education, handhaben es so, dass die Studierenden einen bestimmten Umfang an Praktika leisten müssen.

Professor Pilky Hong, der Studiendekan, ist stolz darauf, dass sich an dieser Hochschule Leute einschreiben, die Ziele und Visionen haben. Sie wollen wirklich etwas lernen, sagt er, und kommen nicht nur, um Credits zu holen. Denn ansonsten, wie vielfach gehört, krankt das koreanische Bildungssystem an einer Abschlussverbissenheit. Die Kosten für ein Studium an der privaten Seoul Digital University halten sich in Grenzen: pro Credit bezahlt man umgerechnet ca. 50 Schweizer Franken bzw. 45 Euro. Außerdem gibt es Stipendien.

19 Cyber-Hochschulen

Anstelle von Klassenzimmern reihen sich im Gebäude der Seoul Digital University Videostudios aneinander. Manche sind im Stil ehrwürdiger Professoren mit Schreibtischen und Bücherregalen aus Massivholz eingerichtet, andere als schlichte TV-Studios mit flexiblem Green Screen. Im Pflichtprogramm der Studioflotte ist auch ein Raum für Anprobe und Maske. Das Aussehen vor der Kamera wird nicht dem Zufall überlassen, Schönheit hat in Korea einen hohen Stellenwert. Das Design sowohl der Videos als auch der Kursdidaktik bestimmt die jeweilige Lehrperson.

Der Prozess für Konzeption und Qualitätskontrolle ist genau vorgegeben und wird von Spezialisten begleitet. Ein Team von 30 Personen unterstützt die Unterrichtenden bei der technischen Produktion der Lehr- & Lernmaterialien. Das vorgefundene Setting an der Seoul Digital University ist nicht einzigartig, denn sie ist nur eine der derzeit 19 Cyber-Universitäten in Südkorea, einem Land mit knapp 52 Millionen Einwohnern. Viele entstanden zu der Zeit, in der an Hochschulen im deutschsprachigen Raum PC-Pools ausgebaut wurden, weil noch nicht alle Studierenden eigene Laptops besaßen, geschweige denn einen Internetanschluss zuhause. 1998 startete die koreanische Regierung einen Pilotversuch mit den ersten fünf Cyber-Universitäten, die jeweils aus privaten Organisationen hervorgingen. Sie sollten den gestiegenen Weiterbildungsbedarf decken. Deshalb sind ihre Lehrgänge größtenteils auf Fähigkeiten ausgerichtet, die im Berufsleben benötigt werden. Heute kommen stetig neue Institutionen hinzu die Distance Education anbieten, teilweise als Ableger konventioneller Universitäten. 

Die Geschichte der Online-Hochschulen ist ein Zeugnis der rasenden Geschwindigkeit, in der sich Digitalisierung in Korea entwickelt und alle Bereiche sowie Schichten der Gesellschaft mitgenommen hat. Gemäß einer Studie von 2019 ist in keinem anderen Land auf der Welt der Anteil der Erwachsenen der ein Smartphone besitzt höher als in Korea: 95%. Technik hat dem Land Wohlstand gebracht, die Tech-Konzerne LG und Samsung stehen symbolisch für den Erfolg und die Modernität Koreas. Dabei sind es die politischen Rahmenbedingungen, welche die Technik zum Schrittmacher für Innovationen befördert haben. Das gilt insbesondere für den Schul- und Hochschulbereich. Heute pilgern E-Learning-Fachleute und öffentliche Entscheidungsträger, vor allem aus asiatischen Schwellenländern, ins High-Tech-Mekka Korea, um zu lernen, wie man Unterricht digitalisiert. Dass es weltweit das erste Land war, das 2019 ein 5G-Netz in Betrieb nahm, passt da gut ins Bild. Korea ist auch deshalb Blaupause, weil es innerhalb weniger Jahrzehnte eine rasante wirtschaftliche Entwicklung hingelegt hat.

Von 0 auf 100: Digitalisierung per Zentralismus

Noch in den 50er Jahren, nach dem Koreakrieg, zählte Südkorea zu den ärmsten Agrarländern der Welt. Da es kaum natürliche Ressourcen besitzt, wurde der Bildung früh die Rolle als wichtigstes Kapital für die volkswirtschaftliche Wertschöpfung zuteil. Dementsprechend investierte die Politik ihre finanziellen Mittel, insbesondere in den Ausbau des höheren Bildungssystems. Heute zählt Korea über 350 Hochschulen, die Akademisierungsquote ist immens hoch. Gemäß der OECD-Statistik steht das Land diesbezüglich weltweit an der Spitze: Über 59% der 25- bis 34-Jährigen besitzt einen tertiären Bildungsabschluss. Ebenso wie die Regierungen es schafften, dass flächendeckend Hochschulen aus dem Boden gestampft wurden, so zielorientiert wurde die Digitalisierung von Lehren und Lernen vorangetrieben. Wählscheibentelefone

Mit einer zentralistischen Bildungspolitik wurden Strukturen geschaffen und Maßnahmen durchgesetzt, deren Ergebnisse sich in Europa ansatzweise nur mit skandinavischen Ländern vergleichen lassen. Die Ausstattung von Schulen und Hochschulen mit modernster ICT-Infrastruktur, aber auch mit dem entsprechenden Knowhow, wird in Korea jeweils auf nationaler Ebene lanciert. Als Folge dessen erhalten Grundschulen in den abgelegensten Provinzen des Landes leistungsfähige Computer sowie Anschluss an Programme, die den Schulbetrieb digital unterstützen: vom WLAN-Internet über das Learning Management System bis zur Software für die Schulorganisation.

Von diesen gleichberechtigten Gegebenheiten kann man im Bildungsföderalismus nur träumen, der Digitalpakt lässt grüßen: Während man in Deutschland 2019 endlich bundesweite Förderrichtlinien für bessere Gerätschaft in allgemein-bildenden Schulen beschlossen hat, werden in Korea derzeit, im Rahmen der sechsten Auflage des ICT-Aktionsplans, Lehrbücher für die Mittelstufe im E-Book-Format überarbeitet und Learning-Analytics-Methoden auf der Basis von künstlicher Intelligenz erprobt. Auch die überschaubare Schweiz rang sich erst 2017 zur Gründung von educa.ch durch, um Synergien für Plattformen im Schulbereich zu nutzen, die in der ganzen Eidgenossenschaft gebraucht werden. Die Infrastruktur-Themen, mit denen sich E-Learning-Experten in den westlichen Ländern teilweise noch befassen müssen, sind für Korea schon Schnee von gestern.

Navigator für die Bildung der Zukunft

Heute ist die Landschaft der Digital bzw. Distance Education in Korea sehr diversifiziert, es gibt Angebote für jedes Bedürfnis und verschiedene Zielgruppen. Der Motor für die Digitalisierung der Bildung in Korea heißt KERIS: eine staatliche Einrichtung, die das Bildungsministerium 1999 mit dem Ziel ins Leben rief, ICT und Bildung auf allen Ebenen miteinander zu verschmelzen. KERIS nennt sich auch «Navigator of Future Education», denn es möchte als Think Tank und nicht nur als Dienstleistungsanbieter verstanden werden. Die Liste der Themen sowie der umgesetzten Verordnungen, Strategien und Projekte ist lang. Sie umfasst nationale Schulinformationssysteme, Beratung zu Urheberrechtsfragen, Einführung von Programmierkenntnissen in der Grundschule, E-Learning -und ICT-Fortbildungen für Lehrpersonen, Online-Module für Mittel- und Oberschüler, Programme zum Schutz vor Cyber-Angriffen, Digitalisierung von Schulbibliotheken, eine Online-Plattform für den Austausch von kreativen Lehrmethoden und Lerninhalten, ein Online-Portal zum Studium mit Behinderung, Evaluationstools zu digital skills, Gesundheit und ethische Aspekte im Umgang mit digitalen Medien – um nur ein paar Beispiele zu nennen. (Zum Weiterlesen: White Paper on ICT in Education Korea).

Das koreanische Pendant zur Schweizerischen NEBIS-Datenbank heißt RISS und wird ebenso durch KERIS bewirtschaftet. Sämtliche Abschlussarbeiten von Studierenden in Korea werden in RISS eingespeist. Außerdem hat KERIS gemeinsame Services für Hochschulen aus der Taufe gehoben, wie die zehn E-Learning-Support-Zentren zwischen 2003 und 2007. Die Idee war, E-Learning-Materialien zu produzieren und diese an mehreren Hochschulen einzusetzen, etwa für Grundlagenfächer. Die Einrichtungen waren jedoch nicht von Dauer, die Konkurrenz unter den Hochschulen war zu groß.

Zwischen Disziplin und Leistungs-Burnout

Und trotzdem: dass sich Korea innerhalb kürzester Zeit von seiner Armut befreit und sich zu einem modernen Technologiestaat entwickelt hat, ist nicht allein das Ergebnis politischer Maßnahmen. Der Respekt vor sozialen Hierarchien, Disziplin sowie das Zurückstellen eigener Bedürfnisse hinter denjenigen der Allgemeinheit prägen das Gesellschaftssystem, das sich teilweise auf den Konfuzianismus beruft. Konfuzius (ca. 500 v.Chr.) vertrat die für damalige Zeit fortschrittliche Ansicht, dass Bildung allen zugänglich sein sollte. Seine Lehren preisen jedoch auch strenge Ordnung, Harmonie und Demut an. Die «Demut» der Bevölkerung hat auch den Militärdiktaturen der 60er und 70er Jahre, unter denen der wirtschaftliche Aufschwung richtig an Fahrt aufnahm, in die Hände gespielt. Man arbeitet ausdauernd, befolgt Anweisungen selbstverständlich und hinterfragt meist wenig den Sinn und Zweck des eigenen Handelns. Dieses Verhalten kommt auch beim Lehren und Lernen zum Ausdruck.

Wer an Schulen in Korea denkt, assoziiert als Erstes vermutlich nicht paradiesische Zustände für E-Learning-Begeisterte, sondern den großen Leistungsdruck in Schulen. Der Drill im Bildungssystem der asiatischen Tigerstaaten hat es schon oft in westliche Medien geschafft, es hagelt Kritik. Auf der einen Seite der Medaille stehen die guten Ergebnisse bei der PISA-Studie, auf der anderen Seite die hohe Suizidrate bei Jugendlichen, wie es in Korea der Fall ist. Der Grund ist zwar nicht einzig im Schulstress zu suchen, aber es ist wirklich so, dass schon Kinder täglich bis in die späten Abendstunden hinein in Nachhilfeeinrichtungen büffeln. Je besser die Noten, desto wahrscheinlicher wird der Besuch einer High School, die gute Übergangsquoten zu den besten Hochschulen des Landes verspricht. Der soziale Kontakt bleibt nicht unberührt vom Leistungswettbewerb. Eltern berichten, wie Freundschaften unter dem Konkurrenzdruck leiden.

Nachhilfeinstitut in Seoul

Das Leben von Jugendlichen ist komplett auf den einen Tag ausgerichtet, an dem sie die Eintrittsprüfung für die Hochschulen machen werden. An diesem Tag – er trägt den Namen Suneung – öffnen nicht nur die Geschäfte im ganzen Land später, damit die Prüflinge nicht im Verkehrschaos stecken bleiben. An diesem Tag entscheidet sich auch jährlich die Zukunft einer halben Million High-School-Schüler. Nur die Besten schaffen es auf die namhaften, top-gerankten Universitäten. Nach dem Uniabschluss beklagen sich die Arbeitgeber über mangelnde Eigenständigkeit und Problemlösungskompetenzen. Der Fokus ist oft auf die Quantität der Arbeit – die Arbeitszeit – und nicht auf die Qualität – die Leistung – gerichtet. Ausländische Chefs sind nicht selten erstaunt über schlechte Englischkenntnisse und ohnmächtig angesichts der mangelnden Selbstverantwortung ihrer koreanischen Mitarbeitenden. Viele Absolventen finden gar nicht erst einen Job mit ihren Qualifikationen, es gibt ein Überangebot an Akademikern.

Wie passt das alles mit der technologischen Vorreiterrolle Koreas zusammen? Trägt die Digitalisierung gar eine Mitschuld an den aufgezeigten wunden Punkten? Weitere Antworten findet man am College of Education an der Seoul National University. Sie ist die Elitehochschule Koreas schlechthin. Ihre Studierenden sind nicht nur bekannt für hervorragende Forschungsarbeiten. Sie waren in der Vergangenheit auch politisch wichtig und gingen für mehr Demokratie auf die Strasse.

Seoul National University

Der Grossstadtlärm hat sich auf einen Schlag in Nichts aufgelöst. Der Gwanak Campus der Seoul National University liegt eingebettet zwischen zwei Bergen im südlichen Teil der Metropole. Für die Größe der Hochschule wirkt das Areal überdimensioniert: knapp 30.000 Studierende lernen und forschen auf über fünf Quadratkilometern Fläche. Durch die Fenster des College of Education sieht man kleine Gruppen junger Erwachsener in Seminarräumen diskutieren. Im hallenartigen Foyer sitzt eine Studentin mit Lockenwickler im Haar vor ihrem Laptop. Sie scheint das schlichte, etwas unpersönliche Ambiente nicht zu stören. Das kleine Büro von Professor Cheolil Lim ist bescheiden für jemanden, der in Korea eine wichtige Stimme hat, wenn es um die Zukunft der Bildung geht. Der Besprechungstisch zwängt sich zwischen überfüllte Bücherregale. Cheolil Lim ist in allen bedeutenden Gremien des Landes vertreten, welche die Politik zu Bildungsfragen beraten. Früher hat er das Departement of Education an der Seoul National University geleitet. Derzeit ist er Präsident der Korean Society for Educational Technology, Co-Vorsitzender des Ed-Tech Forums und Vizepräsident der Academy of Creativity Korea. Die Ämter passen gut zu seinen Forschungsschwerpunkten. Seoul National University

«Wir sind bisher sehr gut darin gewesen, eine qualitativ hochwertige Bildung zu gewährleisten, vor allem in der Grundschule», beginnt Cheolil Lim. «Wenn Sie eine Grundschule besuchen, wären Sie vielleicht erstaunt über die vielen lernerzentrierten Aktivitäten. Die Grundschule ist sehr gut und kann sich weltweit messen lassen. Aber ab der Mittelschule wird es etwas schlechter, denn ab dann sind die Schüler gezwungen später eine gute Universität zu besuchen. Deshalb müssen sie sehr hart lernen». Aus diesem Grund dominierten dann mehr lehrzentrierte, «regierungsgesteuerte» Unterrichtsformen.

«Die Kollaborationsfähigkeiten in Korea sind recht problematisch. Individuell sind die Leute ganz gut, aber man hat ihnen nicht ausreichend beigebracht zusammenzuarbeiten», so Cheolil Lim weiter. Sogar Graduierte der Seoul National University würden dafür kritisiert. Die Studierenden selbst mögen Vorlesungen lieber als Projektarbeiten. Doch mit der vierten industriellen Revolution – dieses Schlagwort würden auch Regierungskreise gerne verwenden – seien neue Kompetenzen gefragt, wie Kreativität und Programmieren. Seit ungefähr zehn Jahren versuche man deshalb verstärkt, einen neuen Weg einzuschlagen. «Education needs to support the future» sagt Cheolil Lim, aber man sei in Korea immer noch am Kämpfen.

Konformität und Konsumorientierung

Es ist paradox: In diesem sehr fortschrittlichen Land wird die Kombination aus Leistungswettbewerb und Anpassungsfähigkeit zum Verhängnis. Offensichtlich wird die Individualität in der koreanischen Gesellschaft gescheut, sie ist nicht Teil des kulturellen Selbstverständnisses. Wer das Land bereist, dem fällt auch die Konsumorientierung ins Auge. Der Status wird über Äußerlichkeiten gezeigt. Das Streben nach der perfekten Oberfläche schlägt sich in der Schönheitsindustrie nieder, die in Korea boomt. Diese richtet sich gleichermaßen an Männer wie an Frauen, wobei letztere noch zusätzlich mit tradierten geschlechtlichen Rollenbildern konfrontiert sind.

Wenn alle so sein möchten wie alle, ist es für den einzelnen Menschen kein Kinderspiel, selbstbewusst und ehrgeizig einen Weg einzuschlagen, der auf den eigenen Stärken aufbaut. Oft treffen die familiären Konventionen und Erwartungen die Berufswahl, nicht die eigenen Interessen. Kein Wunder also, wenn manchmal der Eindruck entsteht, die Digitalität in Korea bzw. deren exzessive Nutzung kompensiere eine allgemeine Hilflosigkeit. Oft wird über Korea gesagt, die wirtschaftliche Entwicklung sei zu schnell gelaufen. Zu schnell für die soziokulturelle Entwicklung. Die Zeiten, in denen sich das Land durch puren Fleiß hocharbeiten konnte, sind jedoch vorbei. Das Wirtschaftswachstum hat sich in jüngster Zeit verlangsamt. Als Produktionsstandort ist man im Vergleich zu asiatischen Nachbarländern längst zu teuer. Wissen wird in Zukunft wahrscheinlich der bedeutendste Wirtschaftsfaktor sein.

Co-Creation by Technology: Wege für die Zukunft

Der Bildungselite Koreas ist die Faust im Nacken bewusst. Deutlich wird dies auf der internationalen Konferenz «E-Learning Korea», die das Bildungsministerium und KERIS jährlich organisieren. Knapp 1000 Teilnehmende aus Politik, Bildung, Forschung und Wirtschaft nehmen 2019 teil und tauschen sich zwei Tage lang nicht nur über die neusten Bildungstechnologien, sondern auch über die Zukunft des Bildungssystems aus. Veranstaltungsort ist das Kongresszentrum COEX im Stadtteil Gangnam, the place to be für die jungen, aufstrebenden Städter. Im Programmheft sind hauptsächlich Speaker aus Korea und dem asiatischen Raum gelistet, vereinzelt auch aus den USA, Australien und Europa. Es gibt Vorträge von Google und der UNESCO sowie einen Konferenz-Track ausschliesslich für die Leute aus den Behörden. Parallel zur Konferenz preisen Ed-Tech-Firmen auf einer Messe, ebenfalls im COEX, ihre neuesten Produkte und Dienstleistungen für den heimischen Bildungsmarkt an: digitale Lernspiele für Kindergarten und Schule, Hardware für Videostudios, VR-Simulationen, LMS-Lösungen und unzählige Roboterbausätze zum Programmieren lernen.Roboter Lernspiele auf der Ed Tech Messe E-Learning Korea

Die Atmosphäre ist gedämpft, die Teppichböden in den breiten Korridoren vor den Konferenzsälen scheinen auch die Teilnehmenden ein Stück weit zu verschlucken. Wer an lebendiges Networking in Kaffeepausen gewöhnt ist, dem fällt auf, wie wenig die Leute hier miteinander reden. Die Stimmung wirkt beinahe nervös und angespannt. Neben den vielen Erfolgsgeschichten zum Einsatz von digitalen Medien im Unterricht sind große und noch unbeantwortete Fragen im Raum, die für Verunsicherung sorgen: Wie wird sich das Bildungssystem im digitalen Zeitalter weiterentwickeln? Wird es den koreanischen Hochschulen gelingen, nicht nur hohe Absolventenquoten, sondern auch massenhaft gute und motivierte Köpfe hervorzubringen, die auf dem globalen Arbeitsmarkt gefragt sind?

Professor Chang Kyung Kim von der Hanyang University beklagt in seiner Keynote, dass das koreanische Bildungssystem auf die Lösung von Problemen mit bereits bekannten Antworten setze, anstatt ungelöste Probleme anzugehen. Die vierte industrielle Revolution sollte «den Tod von Prüfungen und Vorlesungssälen» bewirken. Anstatt Noten brauche man kollektive und künstliche Intelligenz, sowie die Möglichkeit für die Studierenden, ihren Bildungsweg individuell zu gestalten. Prof. Sang Hoon Bae von der Sungkyunkwan University sagt, der größte Fehler sei, dass keine Verbindung bestehe zwischen dem was in der Schule und Hochschule unterrichtet werde und dem was die Lernenden in der wirklichen Welt bräuchten. Gleichzeitig ist er überzeugt, dass die Generation Z die Hochschullandschaft verändern werde: «The user will change the setting».

Die Bedeutung von Hochschulabschlüssen könnte sich dadurch rasant ändern. Schließlich setzt Nicolas Sadirac mit seinem Vortrag über L’Ecole 42, einem Netzwerk von IT-Schulen, den Kontrapunkt zum koreanischen Bildungssystem. Diese Schulen kommen ohne High-School-Abschlüsse der Interessenten aus, der Kompetenzerwerb basiert vollständig auf Peer-to-Peer-Methoden und projektbasiertem Lernen. Das Credo ist Co-Creation: gemeinsam und ohne Konkurrenzdenken Probleme lösen und dabei kollektive Intelligenz erschaffen. Das hat viel mit Offenheit zu tun. Offenheit im Sinne von freier Zugänglichkeit zu Bildung, von grenzenloser und kostenloser Verfügbarkeit von Lernmaterialien dank ihrer Digitalität. Damit hat Korea eine lange Erfahrung, wie die Korean National Open University sowie weitere Initiativen im Bereich Open Education zeigen.

Open Education par Excellence

 Broadcasting Studio des KNOU TV-Senders

Er hat etwas von einem Professor wie aus dem Bilderbuch. In seinem Büro haben sich Hunderte von Büchern und CDs kreuz und quer angesammelt, auch ein Keyboard steht in der Ecke. Man sagt, nur ein wahres Genie beherrsche das Chaos, und das Genie scheint gerne viel Zeit in seinem Zimmer an der Korean National Open University (KNOU) zu verbringen. Professor Jin Gon Sohn kennt die KNOU und sein Departement E-Learning, an dem er zu Educational Technology lehrt, wie seine eigene Westentasche. Er hat den Fachbereich mit aufgebaut und beobachtet die Entwicklungen seit mehr als einem Jahrzehnt. 1972, ziemlich zeitgleich mit der Open University in Großbritannien, wurde die KNOU gegründet. Sie ist eine der zehn größten Distance-Education-Hochschulen der Welt. Seitdem versorgt sie Korea mit günstigen bzw. kostenlosen Bildungsprogrammen, anfangs über Medien wie Post und Fernsehen, später über das Internet. 

Der Fernsehkanal der KNOU mit seinen Bildungsshows ist bis heute geblieben. Dementsprechend ist das Kernstück der KNOU an ihrem Hauptsitz in Seoul ein ganzes Gebäude voller Studios: zum Beispiel Studios für Seminare via Videokonferenzen, welche zeitgleich mit Studierenden in den 13 regional centers der KNOU stattfinden. Außerdem Studios für die Produktion von Lernvideos und solche für das Broadcasting der Fernsehsendungen. Bis heute haben mehr als 600.000 Menschen einen akademischen Abschluss an der KNOU erreicht. Im Unterschied zu den privaten Cyber-Universitäten sind die Aufnahmeverfahren nicht so selektiv. Jede Person mit einem High-School-Abschluss kann sich einschreiben. «Am Anfang waren die Cyber-Universitäten sehr kooperativ», sagt Jin Gon Sohn mit seinem verschmitzten Lächeln, «denn sie wollten von uns lernen wie man Online-Kurse macht». Mittlerweile habe sich jedoch auch der Wettbewerb unter den Distance-Education-Hochschulen verstärkt, jede versuche ein Stück vom Kuchen abzubekommen.

 Produktion von Lernvideos an der KNOUDie Cyber-Universitäten punkten derweil mit Lernstrukturen, welche die Teilnehmenden bis zum Abschluss bei der Stange halten. Im Online-Studium an der KNOU scheint teilweise noch das klassische, nicht-interaktive MOOC-Format zu dominieren, was den koreanischen Lernenden aufgrund ihrer antrainierten Zurückhaltung allgemein entgegenkommt. Das bestätigt telefonisch Dr. Christian M. Stracke, der einen Lehrauftrag an der KNOU hat. Er spricht von Schüchternheit. Ein paar Mal sei er nach Seoul geflogen, um dort Lernvideos aufzunehmen. Mit seinen Studierenden habe er jedoch nie Kontakt gehabt. Erst bei der Alumni-Feier habe er welche kennengelernt. Das Phänomen der hohen Abbruchquoten bei MOOCs ist auch der KNOU vertraut. Jin Gon Sohn ist überzeugt, dass zukünftig mehr Micro Degrees gefragt sein werden anstelle der vierjährigen Bachelor-Programme. Außerdem werde sich die Rolle der Lehrenden weiter ändern, man brauche sie zukünftig hauptsächlich zum Beurteilen von Lernressourcen.

Neben der KNOU hat Korea mit weiteren Initiativen erfolgreiche Pionierarbeit im Bereich Open Education geleistet. Korea Open Courseware (KOCW) ist eine Plattform, die sich in der Schnittmenge von Open Educational Resources, Open Access und Massive Open Online Courses (MOOC) bewegt. Wiederum von KERIS initiiert, ging KOCW 2009 online, mit dem Ziel, Kurse und andere Lernmaterialien koreanischer Universitäten für die breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gratis und ohne Registrierung, aber ohne die Möglichkeit für die Teilnehmenden, einen Nachweis über ihren Lernerfolg zu erhalten. Heute sind auf KOCW über 30.000 Kurse und 400.000 Lernmaterialien publiziert, wobei die Sozial- und Erziehungswissenschaften dominieren. Ungefähr 200 koreanische Universitäten stellen der Plattform Ressourcen zur Verfügung. Kein Wunder, dass KOCW mehrere Preise gewonnen hat. Wie ist es gelungen, dass so viele Hochschulen zur Plattform beitragen, ohne dafür monetär entlohnt zu werden? «Es war der College Transparency Record», erklärt Sooji Lee, die bei KERIS arbeitet und sich seit der Gründung von KOCW damit befasst hat.«

Der College Transparency Record trat ca. 2010 in Kraft. Die Hochschulen müssen verschiedene Kennzahlen offenlegen, damit potenzielle Studierende und deren Eltern sich ein Bild von der Hochschule machen können. Das Bildungsministerium setzt sich auch dafür ein, dass die Hochschulen zeigen, inwiefern sie ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Ein Indikator hierfür war die Anzahl von Lernressourcen die sie auf KOCW veröffentlichen. KOCW hat davon natürlich sehr profitiert», erläutert Sooji Lee. Einmal mehr also kam der Anstoß und Anreiz von staatlicher Seite, nicht von den Universitäten selbst, wie dies kurze Zeit später mit der MOOC-Bewegung in den USA der Fall war. Sie selbst sieht die zentralistischen Maßnahmen teilweise auch kritisch, nicht selten wünschten sich die koreanischen Universitäten mehr Autonomie. Was MOOCs angeht, hat Korea gleichwohl mitgezogen: erstens bei internationalen Anbietern wie edX oder Coursera, zweitens mit eigens von koreanischen Universitäten initiierten Plattformen und drittens mit K-MOOCS, das seine Nische in der beruflichen Weiterbildung gefunden hat. K-MOOCS könnte das Vorbild für das Swiss-MOOC-Projekt sein, um das sich derzeit einige Schweizer Hochschulen bemühen.

Seoul, Südkorea

Lernen von Korea

Korea hat in den letzten 50 Jahren eine beachtenswerte, ja fast unglaubliche Entwicklung hingelegt. In der Bildung hat das Land nicht nur innerhalb kürzester Zeit nachholen können, was andere Industrieländer schon vorgelebt haben. Korea hat auch gezeigt, dass es selbst internationale Maßstäbe setzen kann: Ehrgeizig, innovativ und pragmatisch hat die Politik die Digitalisierung im Schul- und Hochschulbereich vorangetrieben. Für Ed-Tech-Begeisterte ist Korea ein Schlaraffenland. Bildungsforschende finden ein Land vor, dem die rasende Geschwindigkeit seiner Entwicklung noch schwer im Magen liegt, und der innere Leistungsdruck zusätzlich Bauchschmerzen verursacht. Doch das Bildungssystem ist in Bewegung, es reformiert sich stetig in kleinen Schritten. Man scheut sich nicht davor, Dinge neu zu denken und innerhalb kürzester Zeit umzusetzen. Es wird sich lohnen, die Entwicklungen weiterhin zu beobachten und von und mit Korea zu lernen.

Jiyoon, der Gitarrist, lässt noch einmal die Saiten seines Instruments erklingen. Ob er einen Unterschied zwischen dem Online-Studium an der Seoul Digital University und seinem früheren Studium an einer normalen Hochschule wahrgenommen habe? Wie ist es, wenn man seine Kommilitonen nie persönlich, Face-to-Face, sieht? Jiyoon lässt die Gitarre verstummen, wippt mit dem Knie. «Das Online-Studium war einfach dicht bepackt und ich musste sehr viel lernen», sagt er. Die Antwort auf die zweite Frage bleibt aus, vermutlich hat er nicht verstanden was damit gemeint war. Online zu studieren ist in Korea schon lange normal.

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